Re: Das Vibraphon im Jazz

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„Der Rettenbacher ist schuld daran.“
Es war im Sommer 1968. Gitarrist Volker Kriegel und Schlagzeuger Peter Baumeister spielten in Frankfurt. In die Stadt kamen mit einer Tony-Scott-Tournee der Bassist Hans Rettenbacher und der amerikanische Vibraphonist Dave Pike, der 1966 nach Berlin übergesiedelt war. Damals hatte er sich mit dem Bassisten aus Wien getroffen, der ihm zu seinen ersten Jazz-Kontakten (und -Kontrakten) auf dem Alten Kontinent verhalf. Dass Dave Pike inzwischen Wahl-Europäer ist: der Rettenbacher ist (ein wenig) schuld daran. Und auch daran, dass aus der mehr oder weniger zufälligen Begegnung der vier Musiker in Frankfurt erst eine Session und dann diese Session zur Geburtsstunde eines neuen Quartetts wurde: „Eigentlich haben wir nur eine Nacht lang zusammen gespielt. Aber es war so ungeheuer gut, dass Hans sagte, wir sollten beisammenbleiben. Der Rettenbacher ist schuld daran.“ Schuld ist er, dass es das Dave Pike Set gibt.

~ Manfred Miller, Liner Notes zu „The Dave Pike Set – Four Reasons“, MPS 15 253

Ich habe heute den ganzen Morgen die MPS-Alben des Dave Pike Set angehört. Leichte Kost, gewiss, aber die Mischung aus Grooves und offenen Strukturen, die Anklänge an die indische Musik – das macht grossen Spass! Volker Kriegels Gitarre singt, Rettenbacher (der auch Cello und Bass-Gitarre spielt) und Baumeister sind ein sehr tolles Rhythmusgespann – man höre sich etwa mal den Opener von „Infra-Red“ an, „Suspicious Child, Growing Up“! Die indischen Anklänge ergeben sich nicht bloss durch Kriegels Gebrauch der Sitar, ein paar Stücke sind auch rhythmisch wie indische Musik strukturiert.
An sich hätte mir wohl die „Masterpieces“ Compilation (aus den Motor Music Jahren) gereicht, aber die neuen Remaster sind hübsch gemacht und klingen gut.

Übrigens: Album #3 aus der Reihe („Noisy Silence – Gentle Noise“, „Four Reasons“, „Live at the Philharmonie“, „Infra-Red“, „Album“, „Salomão“) ist als einziges nicht dieses Jahr bei Universal in der „Most Perfect Sound Edition“ neu aufgelegt worden sondern erschien schon 2008 bei Promising Music (und kostet entsprechend ca. dreimal soviel). Lohnt sich aber, da es die einzige offizielle Live-Aufnahme der Band ist – auch wenn es schade ist, dass die Stücke hier auch nicht viel länger geraten sind, denn in Klub-Settings hat die Band offenbar sehr lange, vermutlich ziemlich freie Improvisationen gespielt.
Ganz fehlt bisher das „Dave Pike Album“ – ich hoffe, es folgen weitere MPS-Reissues von Universal und dieses wird dabeis ein! (Bis dahin gilt: Das Internet ist Dein Freund.)

Volker Kriegel schrieb (in seinem Aufsatz „Jazz & Rock“, zu finden im Band „Jazzrock – Tendenzen einer modernen Musik“, rororo Sachbuch Bd. 7766, 1983). Das Zitat findet sich genau so wie in der Folge wiedergegeben in Alexander Schmitz‘ Liner Notes zur „Masterpieces“ CD):

„Dave Pike, Hans Rettenbacher und ich haben die Stücke komponiert und unsere jeweiligen Vorlieben in die Band eingebracht“, schreibt der Gitarrist. „Da kam allerhand zusammen. Wir spielten jazzige Balladen, Pop-Stücke im 8tel-Rhythmus, Stücke mit freien Passagen; (…) aber wir experimentierten auch mit ungeraden Metren und freien Strukturen; zwischendurch wurde[n] immer mal wieder der Blues gespielt und auch Stücke mit konventionellen Jazzharmonien. Die musikalische Identität der Bandd lag nciht so sehr im Bereich der Stilistik (eigentlich müsste man sagen: der stilistischen Vielfalt). Abgesehen vom dominierenden Klangbild Vibraphon/Gitarre und den typischen Kompositionen sind es vor allem die Improvisationen gewesen, die der Band das Profil gaben. Und wir – als Improvisatoren – vom Jazz herkamen (…), hatte die Musik des Dave Pike Set … bei aller Vielfalt des Ausgangsmaterials ihren Angelpunkt, ihr Fundament eindeutig im Jazz“ (J&R 52)

~ Volker Kriegel, zit. nach: Alexander Schmitz, Liner Notes zu „Dave Pike Set: Masterpieces“ (CD: Motor Music/MPS 1996)

Kriegels Ton fällt mir immer wieder auf – er klingt rein und singend, schwingend, selbst wenn er manchmal Effekte oder typische Akkorde einstreut, wie das die klassischen Hardbop-Gitarristen auch manchmal taten. Ich mache wohl nachher gleich mit seinen eigenen MPS-Alben weiter (von denen mit allerdings „Inside Missing Link“ noch fehlt).

Eine Prise Zeitgeist noch zum Abschluss: die Instrumentierung, wie sie auf dem Foldout von „Infra-Red“ (das übrigens auf Liner Notes verzichtet, stattdessen Fotos der Musiker enthält, allesamt in Schwarz/Pink gehalten – das erste diese „Infrarot“-Fotos gab’s übrigens schon auf dem Backcover von „Noisy Silence – Gentle Noise“):

Dave Pike: Vibraphone, Percussion, Toys, Bongos, Vocals, Velvet Vibrations, Brown And Yellow, Bird, Sandman, Eyes-Bags, Heavy Cases, Permanent Miser, Korn
Volker Kriegel: Guitars, amplif. and unamplif. Sitar, Revals, Black, Silver, Cartoons, Percussion, Sweat, Vocals, Montuna Hangup And E 7, Diversified Something
J.A. Rettenbacher: Bass, E-Bass, Pedalos, Strange Chemical Reactions, Maracas, Anti-Austrian Complex and Percussion and Vains, Vocals and Martini
Peter Baumeister: Drums, Double-Breasted Suits, Vocals, Basically Responsible Character, Rumpsteak, Lists, Percussion, Alarm-Clock, Economics and Bell

Auf dem letzten Album, „Salomão“, ist das New Dave Pike Set zu hören, immer noch mit Kriegel, am Bass und Schlagzeug sind aber Eberhard Weber und Marc Hellmann zu hören, und als Gäste ist die Perkussionsgruppe Baiafro dabei.
Zumindest hier im Titeltrack – er dauert 13:22 – bricht die Musik für einmal auf, die Musiker des Pike Set haben viel Raum, über die Rhythmen und Gesänge der Grupo Baiafro zu solieren. Eberhard Weber macht seine Präsenz sofort spürbar, erst recht im zweiten Stücke „Berimbass“ (das ihn neben Onias Camardelli am Berimbau präsentiert). Sein Spiel ist flächiger und irgendwie weniger organisch, weniger atmend als jenes von Rettenbacher. Das verändert den Sound der ganzen Gruppe nicht unerheblich, und mir gefällt ehrlich gesagt das enorm swingende und atmende Spiel von Rettenbacher/Baumeister deutlich besser. Zudem sind nach dem tollen Opener instgesamt sieben kürzere Stücke zu hören (die letzten fünf davon laufen unter der Überschrift „Ritmos do Bahia“) und das Album als ganzes erreicht nicht die Kohärenz, die ich mir nach dem Auftakt gewünscht hätte – auch wenn noch ein paar tolle Momente folgen.

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