Re: Clark Terry

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gypsy-tail-wind
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Was mir beim Hören von Terry immer deutlicher klar wird ist, dass seine Spielhaltung eine im „alten“ Jazz verwurzelte ist. Sein Ton, sein ganzes Auftreten ist viel näher bei einem Roy Eldridge, einem Vic Dickenson oder einem Ben Webster – er kann zwar problemlos mit modernen Jazzern spielen, aber im Kern ist seine Musik anders, unbeschwert von den technischen Hürden, die mit dem Bebop aufgebaut wurden und die zu einer Einengung der Expressivität der persönlichen Ausdrucksformen im Jazz geführt haben.
In Kürze: Terry schert sich einen Dreck darum, ob er technisch mithalten kann, es geht ihm um den Ausdruck, um Charakter, um Persönlichkeit, wie sie in der Bebop Orthodoxie nicht mehr möglich war. So jedenfalls meine Theorie…

Eins der schönsten Alben von Clark Terry entstand im Sommer 1966 mit Shirley Scott an der Orgel, begleitet von Mickey Roker sowie George Duvivier oder Bob Cranshaw. Der Rahmen ist völlig frei, Terry spielt unbeschwert drauflos wie etwa auf dem Album mit Buddy Tate, sein Sound passt extrem gut zur Orgel – ich bin versucht zu sagen, dass ich keine Aufnahme eines Trompeters mit Orgel kenne, die so gut passt. Blue Mitchell, Bill Hardman oder Virgil Jones funktionieren eher als lyrischer Kontrapunkt, ohne Sax und Gitarre wäre da wenig dran… bei Terry ist das anders, Gitarre ist gar nicht vorhanden, Scott spielt wie üblich vergleichsweise sparsam und schlank, und Terrys Sound genügt, damit man nichts misst. Überzeugt mich jedenfalls sehr, dieses Album – hab’s vorhin gleich zweimal am Stück gehört! Schade, dass es nicht einfacher zu greifen ist (ich hab bloss einen Vinyl-Rip davon).

Ende 1966 (am 26. November, um präzise zu sein) entstand in London obige Aufnahme von Jazz at the Philharmonic. Clark Terry war mit dabei, neben Dizzy Gillespie, Zoot Sims, James Moody, Coleman Hawkins, Benny Carter, Teddy Wilson, Bob Cranshaw, Louis Bellson und T-Bone Walker.
Der erste Teil besteht aus zwei Jams mit Dizzy, Terry, Moody und Sims, „Ow“ und „The Champ“, dazwischen kriegen Terry („Stardust“) und Moody („Yesterdays“ an der Flöte) die Chance, ihr Balladenkönnen unter Beweis zu stellen und Dizzy spielt „Tin Tin Deo“ über dem starken Bass von Cranshaw und Bellsons rumpelnden Latin-Rhythmen.
Dann folgt das kurze Set von T-Bone Walker, begleitet von den genannten Musikern. Terry bläst in „Woman You Must Be Crazy“ kaum hörbare Ostinati und spielt dann eins seiner Mundstück+Stimme Soli, sehr toll wie die Rhythmusgruppe (inkl. Walkers Gitarre) dazu die Begleitung intensiviert. Das Intro zu „Goin‘ to Chicago“ ist Rock’n’Roll… Bellson kriegt all die Shuffle-Rhythmen ziemlich gut hin. Das dritte Stück von T-Bone ist ein langsames „Stormy Monday“, Cranshaw ist sehr präsent – schön! Auch hier spielt Terry wieder als einziger der Bläser ein Solo.
Die zweite Hälfte beginnt mit Teddy Wilsons Trio, die Eleganz von Wilson ist kaum zu übertreffen, mit Cranshaw/Bellson hat er eine mehr als solide Rhythmusgruppe hinter sich. Das Trio spielt „Shiny Stockings“, „Undecided“, ein Medley as „I’ve Got the World on a String“ und „L-O-V-E“, und mit Carter, Hawkins „Blue Lou“. Hawkins frisst die Changes förmlich in sich hinein, sein Ton ist stark und gross. Carter ist demgegenüber die pure, tänzerische Eleganz und Leichtigkeit. (Die beiden sind übrigens – bei all ihrem überragenden technischen Können und ihrer harmonischen Avanciertheit – auch gute Beispiele für das, was ich mit dern einleitenden Bemerkung meine.)
Dann folgt das zweite Jam-Segment, allerdings steht demnächst Benny Carter („I Can’t Get Started“) und dann der Stargast Coleman Hawkins („September Song“, „Body and Soul“ und „Bean Stalkin'“) im Mittelpunkt – und erteilt kurz einen Meisterkurs im Balladenspiel -, vor die ganze Entourage gemeinsam mit „What Is This Thing Called Love“ abschliesst.
Zum Ende spielen alle gemeinsam (ausser T-Bone Walker)
Der Fehler mit dem Datum geschah anscheinend erst bei der CD – Hawkins verstarb im Mai 1969 und wäre im März 1969 (so das auf der CD angegebene Datum) nicht mehr in der Lage gewesen, eine solche JATP-Tour durch Europa durchzustehen, geschweige denn so toll zu spielen.

Im Juli 1967 wirkte Terry am Greatest Jazz Concert in the World mit, einer Art Super-JATP-Session, an der Duke Ellington (mit seinem ganzen Orchester), Ella Fitzgerald (mit dem Trio von Jimmy Jones, mit Bob Cranshaw und Sam Woodyard) und Oscar Peterson (mit Sam Jones und Bobby Durham) als Headliner teilnahmen. Dazu stiessen u.a. Clark Terry, Benny Carter, Coleman Hawkins, Zoot Sims, Louis Hayes und T-Bone Walker. Paul Gonsalves und Johnny Hodges nutzten die Gelegenheit und stürzten sich in ein paar Jams und Zoot Sims und Clark Terry traten auch als Solisten mit Ellingtons Orchester auf. In den USA 1967 war das wohl so etwas wie ein Schwanengesang des Mainstream Jazz, bei dem viele der alten Grössen nochmal auftraten, vor das grosse Jazzklub-Sterben zu Ende ging.

Terry nahm in diesen Jahren u.a. weitere Alben mit Bob Brookmeyer auf, erschien aber auch als Sideman mit Chico Hamilton (Further Adventures of El Chico), Oliver Nelson (Plays Michelle), Gary McFarland (Promises), Earl Hines (Once Upon a Time – mit vielen alten Ellington-Kollegen), Chico O’Farrill, Jimmy Rushing und anderen.
Im April 1969 trat er zudem mit Bill Berry, Urbie Green, J.J. Johnson, Paul Desmond, Gerry Mulligan, Hank Jones, Jim Hall, Milt Hinton, Louis Bellson, Mary Mayo, Joe Williams sowie den Gastpianisten Duke Ellington, Dave Brubeck, Billy Taylor und Earl Hines im Weissen Haus auf, an einem Ellington-Tribute.

Im Sommer 1969 trat Terry mit einer internationalen Big Band in Montreux auf, Ernie Wilkins hat arrangiert, in der Band sassen Leute wie Hans Kennel, Raymond Droz, Eero Koivistoinen, Bruno Spoerri, Hugo Rasmussen, Dave Pike, sowie Wilkins selbst. Terry ist der Starsolist, spielt Trompete, Flügelhorn, Pocket-Trumpet, improvisiert mit dem Mundstück und mit seiner Stimme.
In „Swiss Air“ soliert zuerst Dave Pike (wenn er nur nicht dauernd mitsummen würde!), dann Terry, dann folgen Tenor und Posaunensoli, wohl Wilkins (oder doch eher Spoerri?) und Droz. Auf „All Too Soon“ bläst Wilkins eine schöne Hommage an den langjährigen ex-pat Ben Webster, es folgen zwei Terry-Features, „Mumbling in the Alps“ (auf Terrys Trompete und „mumbles“ folgt nochmal Wilkins) und die Ballade „Stardust“.
Dann folgt das viertelstündige Wilkins-Original „Broadway Joe“, auf dem neben Terry, Pike und Wilkins viele Musiker der Band kurz solistisch zu hören sind. Den Abschluss macht der „Levee Camp Blues“, in dem Clark Terry die Story zwischendurch erläutert… und dann den nächsten Chorus bläst.

1970 enstand dann in der Carnegie Hall eine Aufnahme mit einer eigenen Big Band, Terry nahm auch weiter an diversen Jams teil, spielte mit Basie, Ella Fitzgerald, den Trumpet Kings (Dizzy, Eldridge, Sweets) und nahm 1975 ein Duo-Album mit Oscar Peterson auf (ich kenne es nicht, habe bisher bloss jene mit Roy Eldridge und Harry Edison).

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