Re: Albert Ayler

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Im November ging Ayler mit seiner Band auf eine kurze Europa-Tournee – die Agenda:

3. November – Jazzfest Berlin, Philharmonie
ca. 4., 5. oder 6. November – SWF TV-Studio, München
7. November – Lörrach
8. November – De Doelen, Rotterdam
ca. 9. November – Helsinki
10. November – Koncerthus, Stockholm
11. November – Tivolis Koncertsal, Kopenhagen
13. November – Jazz Festival Paris, Salle Pleyel (2 Konzerte, das zweite eigentlich am 14. November)
15. November – „Jazz Goes to College“, London School of Economics, London

Es gab überdies auch noch einen nicht genau zu datierenden Auftritt in Amsterdam, vermutlich im Concertgebouw.

(gemäss: Ben Young, Carlos Kase: „Sightings“, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 204)

Die Band:

Don Ayler – Trompete
Albert Ayler – Tenorsax
Michel Samson – Violine
Bill Folwell – Bass
Beaver Harris – Drums

Die Auftritte von Berlin und Rotterdam finden sich auf CD5 der „Holy Ghost“ Box, diejenigen aus Lörrach und Paris (nur das 2. Konzert nach Mitternacht wurde anscheinend mitgeschnitten) auf der Hat CD „Lörrach, Paris 1966“ (greifbar derzeit am ehesten als hatOLOGY 573 – erschienen 2002, mittlerweile leider wieder vergriffen). Zudem sind Aufnahmen vom 10. und 11. November überliefert – sie finden sich auch auf dem „Ayler Tree“, der vor der „Holy Ghost“ Box viele Lücken schloss.

Ich wiederhole nochmal die Einleitung, die Ben Young zur in „Holy Ghost“ enthaltenen Musik jener Zeit schrieb:

For many, the dominant impression of Ayler’s 1965-66 music is one of predictability. Once Albert brought his brother into the group on trumpet – an instrument relatively new to Don – an organizing principle was required that could accomodate the members‘ relative skill levels. So he ultimately traded a large part of 1964’s absolute freedom of small- and large-scale structure for the highly arranged and regular formula of the quintet.

~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 153

Der Ablauf der Konzerte änderte sich kaum, das Urteil – sollte es denn zutreffen – wäre damit ein ziemlich hartes Verdikt.

Die Musik Aylers war wohl ein ziemlicher Fremdkörper auf dieser Tournee – sie wurde organisiert von George Wein unter dem „Newport Jazz Festival“ Banner, die Bands waren zumeist bereits für das 1967er Festival engangiert: Stan Getz, Illinois Jacquet, Max Roach, Sonny Rollins (er sprang für Coltrane ein, der absagen musste), Dave Brubeck und Jo Jones waren dabei.

Berlin, 3. November (Holy Ghost)

Laut Young (S. 154, ebenda) war das Publikum in Berlin das grösste, vor dem Ayler bis anhin gespielt hatte. Das Ergebnis ist ein sehr starkes, äusserst dichtes und konzentriertes Set – leider nur ca. 27 Minuten kurz. Don Ayler hielt seinen Beitrag zu diesem Konzert für einen der Höhepunkte seiner Karriere.
Die Musik ist wunderbar, Gruppenmusik, ein steter Fluss an Ideen und Klängen, die Geige und Folwells zeitenweise gestrichener Bass liefern grossartige Texturen, über die Don sich erhebt und durch die Albert streckenweise durchbricht mit seinem ungezähmten Tenorsax… auf „Omega“ klingt die Band wie eine Mischung aus Renaissance-Truppe und bergamaskischem Folk-Jazz im Stile Trovesis, Dons Trompete tänzelt, im Unisono mit Alberts Tenor, die Geige flirrt, Folwell spielt eine Art Kontrapunkt, wieder am gestrichenen Bass… und Harris schaut hie und da mit Marsch-Rhythmen vorbei.
Die Setlist: Ghosts, Bells, Truth Is Marching In, Omega, Our Prayer.

Lörrach, 7. November (Hat)

In den Tagen vor dem Konzert in Lörrach fanden im SWF TV-Studio in München anscheinend Studio-Aufnahmen statt. Leider scheinen sie nicht überliefert zu sein.
In Lörrach sah die Setlist etwas anders aus: Bells, Prophet, Our Prayer / Spirits Rejoice, Truth Is Marching In.
In „Bells“ ist sofort wieder diese Mischung aus Marschmusik und Folklore, die gestrichenen Texturen der Streicher, darüber melodieseeligen Ayler-Brüder, dazu Harris… wunderbar! Don spielt dann ein längeres ziemlich tolles Trompetensolo (das Stück ist mit seinen 13:30 das längste überlieferte von dieser Tour).
Peter Niklas Wilson (siehe unten zu London) trifft es ziemlich genau: Die Musik bereitet grosse Freude und hat eine Unmittelbarkeit, die selten so stark empfunden werden kann. Grossartig etwa der kurze Moment des Innehaltens, wenn die Gruppe von „Our Prayer“ in „Spirits Rejoice“ (bzw. die „Mayonnaise“, wie Ayler sie genannt haben soll) wechselt.
Das gute alte „Ghosts“ klingt mit Samsons Gefiedel und Folwells gestrichenem Bass völlig neu, das Tempo ist schneller, Don trägt die Melodie, während Ayler sie umspielt und manchmal, so scheint mir, fast juchzt durch sein Instrument – eine sehr urchige Angelegenheit, die im nächsten Moment im hektischen Fluss und in Harris‘ Trommelgewittern untergeht… der Kontrast zur Musik von 1964 ist in der Tat sehr gross.
Auf dem abschliessenden langen „Truth Is Marching In“ setzt Ayler dann zu einem ausführlichen, grossartigen Tenorsolo an, schreit, windet sich, begleitet über weite Strecken nur von Beaver Harris‘ intensivem Getrommel.
Diese Aufnahme ist mit über 41 Minuten die längste von dieser Tour – und sie klingt vergleichsweise gut, besonders Samson kann hier für einmal adäquat gehört werden!
Die Setlist ist hier etwas verwirrend, siehe Anmerkungen hier.

Rotterdam, 8. November (Holy Ghost)

„There were crazy scenes, almost like with the Beatles“, Michel Samson (now teaching violin at the University of Louisville/Kentucky) recalls. „In Rotterdam people stormed the stage. Same thing in Paris, in Stockholm.“
This kind of enthusiasm would make the musician and his brother forget that the organizers of the tour did not exactly treat them like royalty. As Bill Folwell put it: „There was an A-tour, and we were the B-tour.“ While Stan Getz or Dave Brubeck stayed in the first class hotels, the musicians of the Ayler group might have to make do with three-bed rooms without bath.

~ Peter Niklas Wilson, Liner Notes zu „Albert Ayler – Lörrach, Paris 1966“, hatOLOGY 573, 2002

„Free Spiritual Music“ – so beschreibt der Peter de Wit in seiner Ansage, was gleich folgen sollte… die Setlist: Truth Is Marching In, Bells, Spirits Rejoice, und zuletzt ein Titel, der als „Free Spiritual Music“, part IV aufgeführt wird.
Für einmal wirkt die Musik hier auf mich etwas fahrig, zerfasert. Erst bei „Spirits Rejoice“ fängt der Zauber langsam zu funktionieren an – wunderschön die kammermusikalischen Passagen in der Mitte des Stückes… und wie Harris dann zum Marsch trommelt!


Rotterdam, 8. November 1966
Don Ayler, Albert Ayler, Michel Sampson
Photo: Boudewijn van Grevenbroek

Der Ayler betreffende Teil des Programmheftes findet sich hier (wo man überdies erfährt, dass Harris – nachdem er das Konzert mit disintegrierendem Drumkit überstanden – eine enorme Menge Meatballs verdrückt habe – sympathisch, der Mann!)

Stockholm, 10. November (Ayler Tree)

In Schweden schnitt das Fernsehen Aylers Auftritt mit: Truth Is Marching In, Omega Is the Alpha und Our Prayer standen auf dem Programm. Ayler ist wunderbar, wie er im Singsang das Thema des ersten Stückes präsentiert. Leider lässt die Qualität ein wenig zu wünschen übrig, besonders Folwell geht (wie schon auf der Berliner Aufnahme) etwas unter.

Kopenhagen, 11. November (Ayler Tree)

Aus Kopenhagen existiert ein Radio-Mitschnitt in etwas schlechterer Qualität aber mit ziemlich viel Bass im Mix. Nach einem Intro (Ayler habe Angst, „he doesn’t look sharp enough“, weil sein Gepäck beim Flug nach Kopenhagen verlorgen gegangen sei) folgen: Truth Is Marching In, Holy Ghost/unknown title/Light in Darkness, Our Prayer, sowie ein unbekanntes und leider unvollständiges Stück.
Die Band wirkt lebending und vor allem Harris reagiert auf jedes musikalische Ereignis. Das Medley mit dem unbekannten Stück in der Mitte und dem neuen „Light in Darkness“ (es wurde auch in Paris gespielt und dann im Februar 1967 für Impulse im Village Theater offiziell aufgenommen) ist grossartig! Ein Schwanken, ein Kommen und Gehen von Stimmen und Tönen, Folwells gestrichener Bass trägt sehr viel bei.

Jazz Festival Paris, 13. November (Hat)

Die Aufnahmen von dieser Tour enden mit dem kürzesten Mitschnitt, der in Paris am zweiten Konzert nach Mitternacht (also eigentlich am 14. November) stattfand. Die Gruppe spielt: Ghosts, Spiritual Rebirth/Light in Darkness/Infinite Spirit, und All/Our Prayer/Holy Family. Wieder ist die Setlist etwas verwirrend (wir hatten die Anmerkungen zum Hat-Release schon oben – in der Tat erklingt im ersten Stück auch das Thema von „Ghosts“ mal kurz).
Die Musik ist wieder in guter Qualität eingefangen, Samson profitiert davon am stärksten, das Gewebe aus Tönen und Klängen, der Teppich aus Sounds und Beats wird wieder deutlich hörbar – und das tut der Musik sehr gut, da sie vom Wechselspiel aus ruhigen und dichten, schnellen, aus kammermusikalischen, melodieseelig-volksmusikartigen Momenten und wilden Ausbrüchen lebt. Zu Beginn des dritten Stückes singt (heult? jault?) die ganze Band kurz gemeinsam – ein gespenstischer Augenblick, der sich dann aber einem Choral-artigen Thema („Our Prayer“) auflöst.
Die insgesamt tollen Aufnahmen dieser Tour kommen mit dem Pariser Mitschnitt zu einem jubilierenden Abschluss – der Empfang scheint in der Salle Pleyel besonders warm gewesen zu sein, die Aylers danken es mit einem Konzert, das unmittelbar euphorisierend wirkt – und wie Wilson das (in seinen Notes zur hatOLOGY CD) beschreibt eben auch die Einsamkeit auslöst, die damit einhergeht…
Jacques Reda hat für Jazz Magazine einen Bericht geschrieben.

London School of Economics, 15. November

Das Konzert (zwei halbstündige Sets) wurde von BBC 2 aufgezeichnet, aber nie ausgestrahlt. Es war das Skandalkonzert der Tour… Bill Folwell äussert sich in einem Audio-Interview ausführlich dazu, Part 3 (ab ca. 10:40, bis ca. 20:10, danach geht’s noch kurz weiter über die Village Konzerte): http://www.ayler.co.uk/html/interviews.html

The BBC people, who recorded the concert for the TV program „Jazz 625“, however, failed to get the spiritual message, refused to broadcast the recording and destroyed the tapes. „Our music is pure art. It’s like I’m moving, like I’m creating the truth. I’m not trying to entertain people, I’m playing the truth for those who can listen“, the musician told British jazz journalist Val Wilmer. To those who couldn’t listen or had their reasons not to want to listen, it added up to little more than mayhem. „The group sounded at times like a Salvation army band on LSD, with Michel Samson’s expert, sophisticated, wholly non-jazz fiddling adding a diabolical note“, a reviewer wrote after the Ayler appearance at the 1967 Newport Festival, and concluded: „Sincerity, alas, has never yet sufficed to make notable art.“ Granted, but this misses the point. For a category like „notable art“ („pure art“, as Albert A. put it) seems strangely irrelevant when listening to this incomparable synthesis of the simples of melodies and the wildest of musical bursts of energy. There is simply nothing calculated, nothing premeditated, nothing contrived about this music. Its emotionality, itsélan vital, its sheer joy is so direct, so unbridled that you can only surrender to its sonic assault, embrace it – or reject it, if you insist on musical finesse, or if you object to such unguarded pathos.

~ Peter Niklas Wilson, Liner Notes zu „Albert Ayler – Lörrach, Paris 1966“, hatOLOGY 573, 2002

Hier findet sich eine zeitgenössische Konzertkritik sowie ein Auszug aus Humphrey Lyttletons Buch „Take It from the Top“ (Lyttleton war der Ansager des Londoner Konzertes) – der ein erstaunliches Verständnis für die Musik zeigt! Ronald Atkins, der die Konzertkritik im Jazz Monthly (Vol. 12, Nr. 11, Januar 1967) geschrieben hat, versucht, die Ayler Band mit einer New Orleans Combo zu vergleichen:

The nature of the themes and their interpretation can only be compared to a New Orleans band, in particular to the marches and dirges of a brass band of the Eureka type.
In his lead work (to use the traditional terminology), Donald Ayler asserted himself more convincingly than on record. His tone—not so coarse as expected but still closer to that of a parade trumpeter than to anyone else—completely lacks the declamatory brilliance and rich vibrato of the post-Armstrong era. Likewise his brother’s sound, even down to the quavering vibrato, resembles that of the Eureka’s Manuel Paul. The violin took on the clarinet’s role, weaving around and above the other two. These ensemble passages were generally kept within the New Orleans harmonic idiom, though with dissonant moments which naturally reflected the sophisticated musicianship of the 1960s. Against this strict counterpoint, the rhythm section ignored metric considerations entirely. William Folwell retained his bow for the whole evening, sawing furiously away to provide a background of swirling colours. Drummer Beaver Harris added the rhythmic colouring, skimming over his kit in the manner of Elvin Jones and following the shifting dynamics with minute precision—but without Jones’s overall allegiance to a regular beat.
Who could have foretold this New Orleans revival, nearly twenty-five years after Bunk Johnson acquired his new teeth? That it has not occurred accidentally is proved by an interview with the brothers published in the Down Beat of November 17th.

Überhaupt eine sehr spannende Kritik – auch bezüglich des Stillstandes, in dem sich die Gruppe befinde:

The truth is that here is an instance of musical innovators suddenly stumbling upon a self-contained form.

…was Atkins aber keineswegs dazu führt, der Musik ihre Gültigkeit abzusprechen – er endet mit einer Art Prophezeiung:

Prophecy is usually pointless, but in time perhaps the ensembles will become freer—more like one of the old Albert Ayler solos—and the dichotomy between style and solo will dissolve into a total sound where melody, solo, rhythm, noise all interact.

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