Startseite › Foren › Über Bands, Solokünstler und Genres › Eine Frage des Stils › Blue Note – das Jazzforum › Albert Ayler › Re: Albert Ayler
Das Albert Ayler Quintett vor dem Slugs‘ in New York, v.l.n.r.: Donald Ayler, Albert Ayler, Lewis Worrell, Ronald Shannon Jackson, Michel Samson (Photo: Ole Brask)
Das Jahr 1966 ist dasjenige, in dem Ayler am häufigsten dokumentiert wurde – besonders von der Europa-Tournee im November existieren mehrere Aufzeichnungen. Allerdings liegt mit „Spirits Rejoice“ die letzte grosse Studio-Scheibe schon eine Weile zurück, ein nächstes Studio-Album sollte erst mit „Love Cry“ (Impulse 1968, rec. 1967/68) folgen, das bereits die Spätphase von Aylers Werk einläutete. Wir stehen hier allerdings gerade erst am Beginn der mittleren Periode.
Ayler was a jammer from the beginning. As a young adult, he haunted the Euclid Avenue and Kinsman Road clubs in Cleveland’s east side, then he haunted the Paris Left Bank clubs while stationed in nearby Orléans. In addition to checking up on the organ-combo scene on 125th Street, he installed himself for most of his first year in New York at the Take 3 Coffee House on Bleecker Street.
Settling later into his middle period Ayler also settled into Slugs‘ as his regular perch. For the rest of his career, but especially in 1966, Slugs‘ was the most consistent place to find Ayler. His memorable shows at the club are preserved in a couple of hours of audio recordings, dozens of photographs, and hundreds of stories from those who took part or bore witness.
~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 146
Aus dem Slugs‘ stammt das erste Dokument von 1966: zwei Ausschnitte, in denen Ayler mit dem Quartett des Pianisten Burton Greene zu hören ist. Der eine Auschnitt ist auf der „Holy Ghost“ Box zu hören, dieser sowie ein zweiter waren davor auf dem „Ayler Tree“ in Zirkulation. Neben Ayler ist Frank Smith am Tenorsax zu hören, Steve Tintweiss spielte Bass und Rashied Ali sass am Schlagzeug. Greenes eigenes ESP-Disk‘ Album ist übrigens unter dem Titel Bloom in the Commune auf CD greifbar – neben Frank Smith ist Marion Brown am Altsax zu hören, Henry Grimes spielt Bass, Dave Grant und Tom Price spielen Schlagzeug – und als Bonus enthält die CD längere Interviews mit Greene.
Albert & Donald Ayler, The Village, New York, 28. März 1965 (Photo: Charles Stewart)
Im April wurde Ayler im La Cave in Cleveland mitgeschnitten. Diese Aufnahmen bilden gewissermassen Herzstück der „Holy Ghost“ Box. Auf zwei CDs finden sich jeweils zwei Sets vom 16. und 17. April 1966 mit Don Ayler (t), Michel Samson (v), Mutawef Shaheed (damals Claude Shy) (b) und Ronald Shannon Jackson (d). Am zweiten Abend stösst Frank Wright (ts) fürs zweite Set zur Band.
Mit dieser Band war Ayler für längere Zeit unterwegs, nur Shaheed wurde bald durch Lewis Worell und später durch William Folwell ersetzt und Jackson machte Platz für Beaver Harris, später ersetzte Milford Graves diesen. Michel Samsons Präsenz – ein Weisser! und was spielt er? Violine! – war damals für viele eine Provokation, Ayler hielt aber an ihm fest.
Samson stammte aus den Niederlanden und war in Cleveland, um solo klassische Stücke zu spielen an der Eröffnung des Kleiderladens von Peter Bergman, der wiederum Aylers erstes Konzert als profesioneller Musiker in seiner Heimatstadt organisiert hatte. Ben Young zitiert Samson wie folgt:
I looked in the newspaper and saw that Albert Ayler was playing; „Why don’t we go there?“ – this was in the afternoon – „Maybe they’re jamming.“ I had heard about Albert Ayler but never heard his music. So we went over to the club. They were playing; I introduced myself and asked if I could sit in. He asked me to play with them. It was very simple; you could do whatever you wanted. Although there was a tremendous prejudice against white musicians, being European broke the barrier. That started a relationship of almost two years
But Samson’s entry into the scene was not unanimously hailed. Ayler’s alto saxophonist Charles Tyler, still a stalwart follower of Elijah Muhammad, wanted no part of an integrated bandstand. He left La Cave without playing a note and in the same stroke permanently left the band once it became clear that Samson would be part of the first show. On his way out, Tyler passed Cleveland jazz enthusiast Jon Goldman going in. At Ayler’s last-minute request Goldman tape-recorded the second and third nights of the engagement […].
~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 148
Ronald Shannon Jackson war neu in der Band, Shy war nur für diesen Gig in Cleveland engagiert worden. Samsons Präsenz war noch so neuartig, dass die anderen Musiker während vieler seiner Soli fast ganz aussetzen – die Aufnahmen schwanken daher zwischen sehr ruhigen Passagen und den bekannten, lärmigen und intensiven Tutti.
Schnell wird auch deutlich dass das Zusammenspiel von Donald und Albert Ayler sich entwickelt hat: Sie haben in der Zwischenzeit das Konzept ihres gemeinsamen Spiels verfeinert, an den Motiven und deren Harmonisierung gefeilt.
Don Ayler spielt stark auf, etwa auf „Spirits“, das sonst nicht bekannt ist von Aufnahmen mit ihm, Auch auf dem grossartigen ausgedehnten „[F# Tune]“ spielen er und Albert in einer aussergewöhnlichen und ungewohnten Tonart tolle Soli und Ensemble-Passagen.
Samson wiederum wurde mit grosser Rasanz zu Aylers Mann des Vertrauens: schon am zweiten Tag des Engagements im La Cave (dem ersten, der aufgenommen wurde), spielten Albert und Samson eine Duo-Ballade, „[untitled minor waltz]“. Samson sollte in der Folge zum Gewährsmann und Begleiter für Aylers lyrische meist in Moll-Tonarten und ohne festes Metrum vorgetragenen Balladen-Exkursionen – auf den Slugs’s Aufnahmen taucht das Motiv als „Initiation“ wieder auf, im Village Theatre Konzert im Februar 1967 folgte dann „For John Coltrane“, und „Zion Hill“ kann man hier aus dem La Cave mit Samson hören und dann auf dem Album „Love Cry“ mit Call Cobbs, der nach der Auflösung der Band den Part des Balladen-Begleiter wieder übernahm.
Im langen zweiten Set des letzten Abens lud Ayler seinen bekanntesten Clevelander Schüler ein, mit der Band zu spielen, Frank Wright. Dessen Präsenz ist unmittelbar spürbar, die Gruppe schaltet einen Gang höher, die Musik ist dichter, härter, lauter – Ronald Shannon Jacksons Spiel vermag immer wieder mitzureissen und zu begeistern. Wrights Soli (im Buch zu „Holy Ghost“ findet sich dankbarerweise ein Solo-Chart) stehen jenen von Ayler wenig nach an roher Kraft.
Ben Young fasst die Musik von 1965/66 (und wohl bis Anfang 1967) wie folgt zusammen:
For many, the dominant impression of Ayler’s 1965-66 music is one of predictability. Once Albert brought his brother into the group on trumpet – an instrument relatively new to Don – an organizing principle was required that could accomodate the members‘ relative skill levels. So he ultimately traded a large part of 1964’s absolute freedom of small- and large-scale structure for the highly arranged and regular formula of the quintet.
~ Ben Young, The Sessions, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 153
Zwei Wochen nach dem Engagement in Cleveland wurde Aylers Gruppe – mit Lewis Worrell am Bass – im Slugs‘ Saloon in New York erneut aufgezeichnet. Die Aufnahmen erschienen zuerst als Bootlegs (und sind bis heute als solche greifbar, etwa auf Lonehills „Complete Live at Slugs‘ Saloon“ auf der wie der Titel schon verrät ein Stück fehlt) auf dem Italienische Base Label, später wurden sie von ESP-Disk‘ aufgelegt und sind derzeit in einer 2CD-Ausgabe von 2005 greifbar.
Diese „Fenster in die Vergangenheit“ – sowohl die Aufnahmen aus Cleveland als auch jene aus dem Slugs‘ – sind für mich enorm wertvolle Zeugnisse und Dokumente. In aller Ungeschliffenheit erlauben sie, nachzuhören, was damals live ablief – nicht geplant, konzipiert und im Studio unter ganz anderen Bedingungen aufgenommen, sondern Schnappschüsse aus dem Alltag der Musiker. Da sehe ich auch gerne von den Unebenheiten der Aufnahmen ab! Überdies dünkt mich, je mehr Musik ich höre, desto unwichtiger wird mir die Qualität der Aufnahmen, desto grösser wird die Faszination für solche Dokumente, fast egal, wie rauh sie klingen!
Musikalisch sind die Aufnahmen eine wahre Freude. Die Gruppe ist eingespielt, Jacksons Drums werden immer vielseitiger, feiner abgestimmt. Samson ist mittlerweile besser in die Arrangements eingebettet, seine Geige verschmiltzt oft mit Don und/oder Alberts Sound, ganz neue Klänge entstehen – sehr faszinierend, die Vorstellung dass ein klassicher Geiger einfach so spontan in diese Gruppe einsteigt… und noch viel faszinierender das musikalische Ergebnis! Glücklicherweise wurde ja die kurze Europa-Tour im November ausführlich dokumentiert – doch davon später mehr.
Eine sehr ausführliche Analyse sowohl der Publikationsgeschichte wie auch der Musik auf „Slugs‘ Saloon“ hat Sean Wilkie verfasst.
Elisabeth van der Mei hat in Down Beat (14. July 1966, Vol. 33, Nr. 14. S. 30f.) eine Konzertkritik eines Auftrittes von Anfang Mai im Village Vanguard veröffentlicht:
A dexterous player, in no way slowed by technical shortcoming, Ayler extracted from his tenor saxophone a wildly varied series of sounds, making “ghosts” travel through an abundance of emotions, playing freely at a height most tenor players can hardly reach and then diving deep into the huskiest ranges of his instrument, coming back to the theme, from which a sparkling trumpet solo grew into a crashing wildfire of sound. Tenor then joined trumpet, surging into a splashing waterfall of music.
Once one learns to listen, patterns become apparent, and their intricacy can be astounding.
Technically brilliant, Sampson was remarkable in showing how two different worlds of music blended into a new sound so exciting and with such a forceful feeling of joy for life that it literally stirred a cheering audience to its feet.
[…]
There was a tune, untitled as yet, with changing tempos, that builds into a near symphonic pattern; there was what could have been an East European folk song, full of nostalgia, during which sometimes the sound of the tenor and of the violin could hardly be distinguished, together creating a delicate musical weave of exquisite beauty; and Our Prayer, written by Don Ayler, a majestic tune and a real powerhouse, permitting Albert to plunge into a devastatingly forceful solo, with the rest of the group repeating the melody line.
Worrell’s inventive bass playing added greatly to the excitement, and Jackson, although with Ayler only a few months, created an illusion of rhythm rather than a beat. He and Worrell gave that particular brand of strong vibrations indispensable behind the strong Ayler horns.
[…]
When first encountering this free-flowing force, one might be slightly taken aback, but in the end one walks away overwhelmed by the force, joy, and excitement of the Ayler sound.
Van der Mei war 1964 aus Holland in die USA gekommen und arbeitete auch als Assistentin für Stollman bei ESP. Ihre kurze Konzertkritik offenbart ein grosses Verständnis für Aylers Musik.
Im Mai fand im New Yorker Village Vanguard anscheinend die zweite Begegnung dieses Jahres mit John Coltrane statt, als Ayler zu dessen Band stiess (Pharoah Sanders, Alice Coltrane, Jimmy Garrison, Rashied Ali). Ein erstes Mal haben die beiden schon im Februar im Rahmen des „Titals of the Tenor“ Konzertes in der Philharmonic Hall im Lincoln Center zusammen gespielt (mit derselben Band plus Carlos Ward, Don Ayler und J.C. Moses) – etwas mehr dazu habe ich im Chronological Coltrane Thread geschrieben.
Bis zur Europa-Tournee im November ist wenig bekannt über Aylers Leben – Gigs scheint er nur vereinzelte gehabt zu haben. Anscheinend ist er allerdings Mitte 1966 bei Kenny Dorham reingesessen – ausgerechnet! Roland Shannon Jackson erinnerte sich daran in einem Interview mit Mitch Goldman am 26. Juni 1987:
„One night Albert and I were hanging out at the Dom, and Philly Joe Jones was playing there with – I think – Kenny Dorham’s group; Miles came by, and he sat in. They had just been playing a regular set. Albert took out his horn between the compositions they were playing, and started playing ‚Summertime‘ and the whole place became … mesmerized, transformed. Cash registers stopped ringing; the waitresses stopped where they were – like still motion on a camera. The band didn’t play. Everything just transcended that place and went to where he took the song. It was like we were on some kind of ship. And when he got through, he brought us all back. And then the band started back up and kept on going. But that was the kind of power he played with. When he played, you’d have to stop and listen. He sucked all the air out of the room and turned it back into a wonderful … lightness.“
~ Ben Young: Witnesses, Liner Notes zu: Albert Ayler, „Holy Ghost: Rare & Unissued Recordings (1962-70), Revenant, ca. 2004, S. 126
--
"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #158 – Piano Jazz 2024 (Teil 1) - 19.12.2024 – 20:00; #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba