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Herbst 1965
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Verdammt, hab grad (= Sonntagnachmittag) einen sehr ausführlichen Post über die Aufnahmen vom 30. September 1965 verloren… statt mich zu ärgern hör ich besser die Musik gleich nochmal (toll genug ist sie ja sowieso!) und diesmal auch gleich in der korrekten Reihenfolge!
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14.-26. September: Jazz Workshop, San Francisco, CA
(Mit Pharoah Sanders und Donald Garrett, die vermutlich während diesem Gig dazustiessen, am Ende des Gigs gehörten sie dann zur Band. Drummer Terry Clarke hat an einer Sunday matinee Jones ersetzt.
22. September: das klassische Quartett ist zum allerletzten Mal in der Stammformation im Studio (siehe vorangehender Post).
27. September – 2. Oktober: Penthouse, Seattle, WA
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Das Sextett (möglicherweise mit Carlos Ward und/oder Joe Brazil) wurde am 30. September aufgenommen – der grössere Teil erschien auf dem Impulse Doppel-Album Live in Seattle (AS-9292, erschienen ca. Jan. 1971), dazu entstand ein halbstündiger Radio-Broadcast, sowie weitere 39 Minuten, die im Umlauf sind (ob sie in letzter Zeit auch auf einem der vielen Bootleg Labels aus Spanien/Andorra erschienen sind, weiss ich nicht).
Die Setlist, laut „Coltrane Reference“ (743f.):
(ann) 0:37
untitled original (25:06) ***
bass duet (12:04)
Cosmos (10:51) *
bass solo (0:15)
thumb piano solo (2:40)
Evolution (35:58) *
Tapestry in Sound [inc] (6:07) *
Out of This World (23:40) *
Body and Soul (21:27) **
Afro Blue [inc] (34:40) **
Afro Blue [inc – ending] (17:33) ***
Lush Life (10:07) ***
My Favorite Things [inc] (10:23) ***
*) auf A(S) 9202
**) auf der Doppel-CD von 1994 (GRP 21462)
***) im Umflauf unter Tradern/Sammlern
Die Aufnahmen beginnen mit dem Radio-Broadcast, der das ganze „untitled original“ enthält (mit Garrett an der Bassklarinette), sowie die ersten paar Minuten vom Bass-Duet – wunderbar, wie Garrison und Garrett (nehme an letzterer mit dem Bogen) zusammen improvisieren!
„Cosmos“ ist eins dieser Mini-Themen, die nur aus einer ganz kurzen Phrase bestehen, die repetiert wird. Sanders und Tyner umspielen Coltranes Thema, Jones setzt feine Akzente. Coltrane beschleunigt, setzt ein Tempo, das Jones als erster aufgreift, Garrison setzt ein, Tyner und Sanders spielen noch immer freie Ornamente um Coltrane. Dieser bleibt über die ganze Dauer des Stückes der dominierende Solist, obwohl das Gefühl einer Kollektivimprovisation anhält.
„Evolution“ ist mit über 36 Minuten neben „Afro Blue“ die längste Aufnahme, und eins der grossen Highlights. Begleitet nur vom Bass von Garrison spielen die drei Bläser (Garrett auf der Bassklarinette) wie David Wild (in seinen Liner Notes zur Doppel-CD von 1994) findet eine Art Variation vom Klarinettentrio in Ellingtons „Mood Indigo“. Die Stimmung ist anfangs äusserst lyrisch (setzt dort an, wo „Cosmos“ geendet hat), wird dann über Garrisons pedal points immer wilder, bis Garrison nach einigen Minuten kurz unbegleitet soliert. Dann kehrt das kurze thematische Motiv zurück, Coltrane setzt das Tempo und mit der vollen Rhythmusgruppe geht’s erst richtig los. Garrett spielt das erste Solo (auf der Bassklarinette), dann Sanders – beide sind mehr mit Klängen, mit Klangfarben, mit der Suche nach neuen Klängen beschäftigt denn mit motivischer Improvisation. Gegen Ende von Sanders Solo schreit, stöhnt, brüllt Coltrane das Wort „Om“ mehrere Male hintereinander – ein vielleicht beim ersten Hören befremdender, aber äusserst intensiver Moment. Nach einer weiteren kollektiven Passage folgt ein Tyner-Solo, das die Grenzen der Tonalität auslotet, von Jones feinfühlig begleitet. Zum Ende kehrt die Gruppe wieder zum kurzen thematischen Motiv zurück, während Garrett und Sanders wilde Arpeggi blasen.
Es folgt das Solo-Bass-Stück „Tapestry in Sound“, das leider nicht komplett erhalten ist. Obwohl Garrison mittlerweile stärker in den Sound der Gruppe eingebunden wurde und auch innerhalb der Stücke solierte, gab es für ihn noch immer die Möglichkeit, sein stupendes Spiel gänzlich unbegleitet zu präsentieren.
Mit „Out of This World“ beginnt das Standards-Segment des Konzerts, Coltrane greift das Stück wieder auf, das er 1962 für Impulse aufgenommen hat, er spielt ein tolles kurzes Tenorsolo, dann folgt Sanders, der etwas verloren klingt. Tyner folgt, dann bläst Coltrane ein beeindruckendes Sopransolo – das möglicherweise der Gegenbeweis für meine Behauptung vom Stillstand auf dem Sopran von oben erbringt! Es folgt eine weitere Kollektivimprovisation mit Sanders und Garrett, dann wird die Intensität langsam abgebaut, die lyrisch-düstere Stimmung vom Anfang taucht wieder auf, das Stück wird langsam heruntergefahren, ohne, dass das Thema nochmal aufgegriffen wird.
Weiter geht’s mit „Body and Soul“. Coltrane singt auf dem Tenor… ein kurzes Intro führt ins Thema, das zeigt, dass Coltrane noch immer in der Lage und willens war, eine grosse, klassische Balladeninterpretation abzuliefern. Zu leise nur schimmert Garretts gestrichener Bass durch – ein sehr schönes Arrangement! Sanders kämpft taper und am Ende gelingt sein ringendes Solo (das jederzeit auch hätte total abstürzen können, so wie ich es höre). Coltranes zweites Solo – nach einem tollen Tyner-Solo, das zwar die reiche Harmonik des Stückes auslotet, aber auch darüber hinaus in freie Gefilde ausbricht – spielt Coltrane ein unglaublich souveränes langes zweites Tenorsolo.
Dann folgt „Afro Blue“, das insgesamt längste Stück des Tages – es bricht auf der CD nach über 34 Minuten ab, auf dem Bootleg gibt’s noch 18 weitere Minuten (und dazwischen fehlt vermutlich noch der grössere Teil von Coltranes Solo) und kommt wohl den legendenumworbenen, endlosen Stücken, wie Coltrane sie live schon seit Jahren gespielt haben soll, am nächsten – sehr, sehr eindrücklich! Am Anfang steht Coltranes Themenpräsentation auf dem Sopran über einen recht schnörkellosen (soweit man das bei Elvin Jones behaupten kann) 3/4 Beat. Dann folgt Sanders mit einem langen Solo, das Farben und Formen untersucht, Tyner mit seinem wohl besten Solo des Abends, dann ein wunderbares Bass-Duet, in dem Garrison und Garrett aus dem Stück komplett ausbrechen, bis Garrison das Tempo wieder setzt, Jones und Tyner einsetzen, und dann folgt Coltrane auf dem Tenor. Nach kurzem bricht leider die Aufnahme dann ab. Auf dem Bootleg geht’s weiter mit – ich vermute – dem Ende des Coltrane-Solos (Sanders improvisiert gleichtzeitig mit Coltrane), dann folgt ein längeres Schlagzeugsolo. Zum Ende kehrt Coltrane mit dem Sopran zurück.
Es folgen noch einmal zwei Standards zum Abschluss: „Lush Life“ von Billy Strayhorn – Coltrane spielt das Thema zunächst respektvoll und ohne Variationen, dann erhöht Jones langsam den Druck, Sanders bläst das erste Solo, und es klingt wieder eher verloren und ziellos, wie er mit Flatterzunge mit Motiven aus Strayhorns Feder spielt. Zum Abschluss dieser grossartigen Aufnahmen gibt’s die ersten 10 Minuten von „My Favorite Things“, Coltrane präsentiert wie üblich das Thema, spielt ein kurzes Solo, dann gibt er an Tyner weiter, während dessen Solo die Aufnahme leider abbricht. Sie klingt allerdings (auch in Abwesenheit der langen Sax-Soli, die wohl auf Tyner gefolgt sind) ziemlich unaufregend und konservativ.
Insgesamt ist das eine unglaublich tolle Aufnahme, höchst intensive, starke Musik – für mich zählt Live in Seattle zu den Highlights von Coltranes letzter Phase.
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1. Oktober: Die Gruppe nimmt das Album Om auf (AS-9140, erschienen ca. Jan. 1968). Eins der skurrilsten aus Coltranes ganzer Karriere… die Kerngruppe (mit Sanders und Garrett) wird hier vom Flötisten Joe Brazil ergänzt. Garrett spielt laut „Coltrane Reference“ (745) Flöte und Bassklarinette, Brazil Flöte, dazu gibt’s in den öffnenden und abschliessenden Teilen diverse Perkussionsinstrumente zu hören, vermutlich von allen zusammen gespielt.
Auf CD ist das Stück (das 29 Minuten dauert und die gannze LP einnahm) am einfachsten auf The Major Works of John Coltrane (GRP 21132, 1992) zu finden, einer Doppel-CD die ansonsten heute überflüssig ist (sie enthält die gesammelten Aufnahmen mit grösseren Besetzungen vom Juni und Oktober 1965, also neben „Om“ beide Versionen von „Ascension“ sowie „Kulu Sé Mama“ und „Selflessness“).
Garrett war auch als Instrumentebauer bekannt, u.a. von Bambusflöten oder Daumenklavieren – als er zur Gruppe Coltranes stiess brachte er einige seiner Instrumente mit und in „Om“ fügen sie sich zum Klang der Gruppe und erweitern ihn, wie auch die menschliche Stimme (die schon am Abend zuvor im Penthouse hie und da zu hören war) die Klangpalette erweitert.
David Wild zitiert in seinen Liner Notes zu „Major Works“, was Coltrane laut Nat Hentoffs originalen Liner Notes gesagt habe:
„Om means the first vibration – that sound, that spirit that sets everything else into being. It is The Word from which all men and everything else comes, including all possible sounds that man can make vocally. It is the first syllable, the primal word, the word of power.“ Hentoff also remarked on the Buddhist phrase „Om mani padme hum“, which translates as „Om, the jewel, is in the lotus, amen.“
Coltrane liest zum Auftakt, unterstützt von einigen anderen, einen Ausschnitt aus dem „Bhagavad Gita“ (Kapitel 9, „The Yoga of Mysticism), vermutlich in der Übersetzung von Swami Prabhavananda/Christopher Isherwood, die erstmals 1944 erschienen war („Coltrane Reference“, 745).
Den Auftakt – noch vor der Rezitation – klingt nach dem späteren Art Ensemble, mit Gongs, Glöcklein, einem Daumenklavier etc. entsteht ein Klangteppich. Nach dem Rezitativ steigt Jones langsam ein, die ersten Saxophonschreie folgen. Es folgen wahre Klangorkane von Sanders und Coltrane, Brasils Flöte bläst darüber hohe Triller, während Jones und Tyner streckenweise ziemlich verloren scheinen. Garrison geht unter, aber seine Anwesenheit ist stets fühlbar. In Tyners kurzem Solo klingt die Musik streckenweise fast schon nostalgisch nach dem „classic quartet“, aber darum geht’s nun endgültig nicht mehr: diese Aufnahme stellt noch viel stärker als „Ascension“ mit seiner Aneinanderreihung von Soli das Kollektiv ins Zentrum, auch wenn besonders Coltrane und Sanders viel Raum für solistische Flüge haben.
Donald Garrett spielt übrigens Bassklarinette und auch Flöte, wenn die Angaben in „Coltrane Reference“ zutreffen (im Booklet der Doppel-CD ist Bassklarinette und Bass angegeben).
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7.-17. Oktober: It Club, Los Angeles, CA
(mit Sanders, Garrett, Frank Butler und vermutlich hie und da Juno Lewis)
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14. Oktober: Coltrane bringt erneut das Quartett mit weiteren Musikern ins Western Records Studio in Los Angeles. Das Sextett (mit Sanders und Garrett) spielt ein Stück von Coltrane, „Selflessness“ und eins von Juno Lewis, dem auf dieser Session mitwirkenden Perkussionisten und Sänger, „Kulu Sé Mama“. Zudem spielt auf beiden Stücken auch der zweite Drummer der Konzerte im It Club mit, Frank Butler.
„Selflessness“ war zuerst auf dem Album Selflessness Featuring My Favorite Things, AS-9161, erschienen ca. Okt. 1969, greifbar – das Album enthielt auch „MFT“ und „I Want to Talk About You“ vom Newport-Konzert von 1963 mit Roy Haynes), Lewis‘ Stück auf dem Impulse-Album Kulu Sé Mama (AS-9101, erschienen ca. Jan. 1967), das mit Quartett-Aufnahmen vom Juni 1965 aufgefüllt wurde.
„Kulu Sé Mama“ war das Stück, das Lewis mitbrachte, als Coltrane ihn ins Studio einlud. Lewis spielt diverse Perkussionsinstrumente und ist für den Singsang (in einem Afro-Kubanischen Dialekt) verantwortlich. Der Titel des Stücks heisse „Gott sieht Mama“ (der Alternative Titel war „Juno Sé Mama“). Auf der LP-Hülle wurde auch ein Gedicht von Lewis sowie ein von einem anderen Künstler angefertigtes Portrait von ihm abgebildet. Nat Hentoff schrieb in den Liner Notes zu AS-9101:
Juno Lewis is a drummer, a drum maker, a singer, a composer. Born in New Orleans in 1931, he is now based in Los Angeles. It was there John Coltrane met him through mutual friends, and the result was the first side of this album, which was recorded in Los Angeles.
Lewis is a proud man, proud of his tradition, as the accompanying poem makes clear. The composition „Kulu Sé Mama“ (or „Juno Sé Mama“) is described by Lewis as a ritual dedicated to his mother. Lewis’s poem, elsewhere on this page, supplies the programmatic content of the piece as well as its emotional base and its emotive intentions.
I would only add that the performance is an absorbing, almost trance-like fusion of tenderness and strength, memory and pride. And fitting its ritual nature, the singing and much of the playing by the horns have the cadences of a chant. For all its length, the work has an organic totality; and at the end, there is a fulfilling sense of achievement – of a long nurtured and developed story finally being told. This, by the way, is Juno Lewis’s first appearance on records. His singing is in an Afro-Creole dialect he cites as Entobes. His drums include the Juolulu, water drums, the DoomDahka, and there are also bells and a conch shell.~ Nat Hentoff, liner notes to „John Coltrane – Kulu Sé Mama“, Impulse AS-9101
„Selflessness“ ist dagegen eine konventioneller Coltrane-Komposition, aus einem kurzen Motiv bestehend. Ein Stück, das nahe bei der Musik der working band ist: Coltrane und Sanders in kollektiven Improvisationen, Tyner mit einem dichten, aus schnellen Linien, Tremolos und Patterns bestehenden Solo, dazu ein immer dichter werdendes Rhythmusgeflecht mit Jones, Butler und Lewis.
In „Coltrane Reference“ (746) steht überdies in der Session Note für 65-1014: „In 1976, David Wild found an alternate take of ‚Kulu Sé Mama‘ in the ABC-Paramount tape library (then at 8255 Beverly Blvd, Los Angeles, California), but it has not been seen since.“
Wild erwähnt das in seinen Liner Notes für die CD (Impulse 543 412-2, 2000) nicht.
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16./17. Oktober: Adams-West Theatre (aka Kabuki Theatre), Los Angeles, CA
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Note: After the West Coast tour ended, John Coltrane and Alice McLeod traveled to Ciudad Juárez, Mexico (near El Paso, Texas). There, Coltrane’s divorce from Naima was finalized; then, at 1:00 p.m. on Wednesday, October 20, 1965, John and Alice were married.
~ Coltrane Reference, 332
(Geschieden in Abwesenheit der bald ehemaligen und Anwesenheit der kommenden Ehefrau? Seltsam… aber deswegen mussten sie ja wohl auch nach Mexiko…)
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ca. 2.-6. November: Pep’s, Philadelphia, PA
(nicht bestätigt)
10.-14. November: Art D’Lugoff’s Village Gate, NYC
(die Gruppe bestand aus: Coltrane, Sanders, Tyner, Garrison, Jones, sowie Archie Shepp, Carlos Ward und Rashied Ali)
15.-21. November: Jazz Workshop, Boston, MA
(ohne Shepp und Ward, aber mit Ali)
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23. November: Die Gruppe nimmt (im Sextett mit Sanders und Ali) das grossartige Album Meditations auf (AS-9110, erschienen ca. Sept. 1966).
Die Suite wurde bereits im Dezember als im Quartett aufgenommen, diese erste Version erschien später unter dem Titel „First Meditations“. Im November machte sich Coltrane an eine leicht veränderte Version, mit Sanders und dem Drummer Rashied Ali in Ergänzung zum Quartett.
Die Suite wurde in zwei ca. 20 Minuten langen Segmenten eingespielt, die mit den Seiten der LP korrespondierten:
Seite 1: I – That Father and the Son and the Holy Ghost (Coltrane, Sanders und Ayler?) / II – Compassion
Seite 2: III – Love / IV – Consequences / V – Serenity
Die Musik macht eine Entwicklung durch von äusserst intensiv zu… noch intensiver… zur gelassenen lyrischen Stimmung am Ende, die aber die ganze zuvor gehörte freie, wilde, urtümliche Musik mit all ihren cries in sich enthält.
In meiner Erinnerung (es ist mehrere Jahre her, dass ich diese Musik vom Herbst 1965 gehört habe) war es so, dass Coltrane von Sanders gefordert wurde, durchaus in einem kompetitiven Sinn. Wenn ich die Musik jetzt wiederhöre, im Rahmen dieses ganzen mittlerweile seit fast zwei Monaten andauernden Coltrane-Marathons, dann höre ich das ganz anders: Coltrane spielt motivisch, zwischendurch auch harmonisch, auf unglaublich vielen Ebenen, während Sanders mehr klangmalerisch spielt, flächig, auch vertikal – aber letzlich bei aller rauhen ungefilterten Emotionalität auch viel weniger facettenreich als Coltrane.
Die erste Seite beginnt mit einem höchst intensiven Blow Out von Coltrane und Sanders, mal gemeinsam, dann jeder für sich, am Ende wieder gemeinsam. Jones und Ali weben ein äusserst dichtes Geflecht an Rhythmen. „Compassion“ rückt dann Tyner ins Zentrum, er spielt ein ganz ganz tolles Solo, schimmernd, glitzernd, zugleich statisch und rasant, hart und sanft.
Die zweite Seite beginnt mit Garrison, unbegleitet – „Love“ – Coltrane steigt ein, dann Jones und Tyner. Nach der wilden Musik der ersten Hälfte geht es hier ruhiger, eingekehrter zu und her.
Die Konsequenzen der Liebe werden dann aber von Coltrane und besonders von Sanders im vierten Teil der Suite mit grösster Kraft zum Ausdruck gebracht. Wie schon der erste Teil ist auch der vierte von kathartischer Kraft. Tyner leitet über zu „Serenity“, dem letzten Teil – die heitere Klarheit, Gelassenheit, die hier erreicht wird, wurde zuvor mühsam erkämpft (man könnte wohl auf diese Suite die Struktur des klassischen Dramas anwenden?).
In dieser grossartigen Aufnahme, nach „Ascension“ wohl die wichtigste des Jahres und wie schon Hentoff festgestellt hatte eine Weiterführung dessen, was Coltrane auf „A Love Supreme“ erreicht hatte, in dieser unglaublich starken Musik fliessen erneut alle Elemente zusammen, die Coltrane zum Ausnahmemusiker machten, der er war: der lange Atem, die direkte emotionale Kraft, die Reduktion auf einfachste kompositorische Motive – die Musik ist wieder eine totale, EIN Stück, in dem alles zu hören ist, in dem alle Emotionen, ich wage zu sagen: ein ganzes Leben, zu hören ist, nicht bloss zu hören, sondern uns dargeboten, um es mit zu empfinden, mit zu erleben und zu erleiden.
Nat Hentoff zitiert in seinen Liner Notes Coltrane, der sich zum „spirituellen“ Gehalt seiner Musik äussert:
„Once you become aware of this force for unity in life,“ said Coltrane, „you can’t ever forget it. It becomes part of everything you do. In that respect, this is an extension of A Love Supreme since my conception of that force keeps changing shape. My goal in meditating on this through music, however, remains the same. And that is to uplift people, as much as I can. to inspire them to realize more and more of their capacities for living meaningful lives. Because there certainly is meaning to life.“
[…]
„There is never any end,“ Coltrane said at the conclusion of our conversation about this album. „There are always new sounds to imagine, new feelings to get at. And always, there is the need to keep purifying these feelings and sounds so that we can really see what we’ve discovered in its pure state. So that we can see more and more clearly what we are. In that way, we can give those who listen to the essence, the best of what we are. But to do that at each stage, we have to keep on cleaning the mirror.“
~ Nat Hentoff, liner notes to „John Coltrane – Meditations“ (Impulse AS-9110)
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30. November – 5. Dezember: Art D’Lugoff’s Village Gate, NYC
(wie 15.-21. Nov.)
13. Dezember: Five Spot, NYC
Ein Benefit Konzert für Frank Haynes, der am 30. November verstorben war. Heute ist Haynes kaum mehr bekannt, er hat aber u.a. mit Dave Bailey, Kenny Dorham und zuletzt Randy Weston gespielt. Ob Coltrane wirklich aufgetreten ist, ist nicht bekannt.
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Note: Saxophonist Byard Lancaster reports that the late saxophonist Marzette Watts taped Coltrane in rehearsal, mostly in duet with Rashied Ali, on several occasions in late 1965 at Ali’s home. „Lush Life“ is said to be among the titles recorded. Details are unconfirmed and we haven’t heard the tapes. Lewis Porter and Evan Spring tried without success to locate Watts‘ family members.
~ Coltrane Reference, 334
1965 war wohl DAS Jahr für Coltrane – im Frühling enstanden die besten, verblüffendsten Aufnahmen mit dem Quartett (besonders die Live-Aufnahmen auf „One Down, One Up: Live at the Half Note“, aber auch die diversen Studio-Sessions von „Coltrane Quartet Plays“, „Transition“ zu den Stücken auf „Feelin‘ Good“, „Living Space“ und „Kulu Sé Mama“), im Sommer folgte das unglaubliche Konzert in Antibes, nur kurze Zeit nach der Aufnahme von „Ascension“, dann ging es rasch voran, mit „Sun Ship“ erweiterte das Quartett noch ein letztes Mal seinen musikalischen Horizont, mit „Om“, „Kulu Sé Mama“ und ganz besonders „Live in Seattle“ (unbedingt die Doppel-CD! Mit Vinyl verpasst man fast eine Stunde grossartige Musik!) folgte die erweiterte Gruppe konsequent dem Weg, die Musik zu erweitern, zu öffnen. Ende Jahr folgte dann mit „Meditations“ die Krönung. Wohl das ereignisreichste, und was offizielle Aufnahmen betrifft am besten dokumentierte Jahr Coltranes (na ja, 1957 gab’s wohl noch mehr).
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Zum Abschluss ein paar Worte von McCoy Tyner, der zum Jahreswechsel 1965/66 aus der Band schied:
„When you’re a part of something like that you can’t really ascertain how strong it is,“ McCoy Tyner told me in 1978, looking back at his years with Coltrane. „We knew that we were doing something different, that it was fresh, timely. We knew that it had come from something that had happened before. At the same time, you’re swept up in that force – you’re not cognizant of how different it is. When something is good, timely, it has a lasting quality.“
David A. Wild, liner notes to „John Coltrane – Kulu Sé Mama“, Impulse 543 412-2 (2000)
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