Antwort auf: Chronological Coltrane

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Sommer/Herbst 1965

… für das „classic quartet“.

Am 26. August nimmt Coltrane eins seiner allerschönsten Alben auf, Sun Ship (AS-9211, veröffentlicht ca. August 1971). Die Musik ist zugleich von grosser Intensität und von erhabener Schönheit. Vielleicht ist sie eine Art Fortsetzung dessen, was zwei Jahre zuvor auf Crescent zu hören war – hymnische, totale Musik.
„Dearly Beloved“, das erste Stück des Albums, beginnt mit einer Art Anrufung, einer invocation, die für das ganze Album die Stimmung setzt. Wunderbar, wie Jones das Metrum auflöst, Garrison einen Boden legt, der aber immer im Unbestimmten schwebt, während Tyner äusserst lyrische Einwürfe spielt, die die Musik nie festlegen oder einengen
Und das muss an dieser Stelle mal gesagt werden: das ist grosse Kunst, was McCoy Tyner in all diesen Jahren gemacht hat! Er ist kraftvoll aber zugleich sehr, sehr lyrisch, er kann äusserst einfache Ostinati oder ganz knappe Akkordfolgen hämmern und zugleich darüber sehr verspielt solieren – und das eindrückliche dabei ist, dass er trotz der stetig reduzierten Harmonik der Musik (selbst wenn Coltrane komplexe Überbauten geschaffen hat konnte, durfte Tyner da nicht mitgehen, sonst wären Kollisionen, Fehler vorprogrammiert gewesen) immer spannend und relevant bleibt, das ist grosse Klasse!
Weiter geht’s mit „Attaining“, dem längsten Stück der Session. Es wird wieder sehr lyrisch über einem zwar dichten aber (sofern das bei der Abwesenheit eines festen Beats Sinn macht) langsamen Tempo gespielt. Solistisch steht hier Tyner ganz im Vordergrund, er spielt ein dichtes Solo, ohne die Stimmung des Stückes zu durchbrechen. Dann folgt Coltrane mit der hymnischen Wiederholung des Themas.
Es folgt „Sun Ship“, dessen Thema aus einem hektischen Motiv auf vier Tönen besteht. Wieder soliert zuerst Tyner, während Jones energischer antreibt. Coltrane bläst ein rauhes, aus schier endlosen Wiederholungen bestehendes Solo – man kann hier wohl die „Symmetrien“ hören, die Litweiler beschreibt. Das Solo ist so wild, wie man es bisher von Coltrane höchstens in Live-Aufnahmen gehört hat. Und mit der Beschreibung Litweilers im Hinterkopf kann man sich durchaus auch die Erklärung mit der Frustration und dem ab und zu nötigen Ausbrechen aus dem selbtgebauten Gefängnis zurechtlegen.
Zum Ende folgt wieder das Thema, erneut unterbrochen durch ein kurzes Schlagzeugsolo.
„Ascent“ beginnt mit einem unbegleiteten Solo von Jimmy Garrison – auch das erinnert an die Konzert-Situation. Das Stück ist wieder lyrisch und frei, wunderschön.
Zum Ende folgt „Amen“, entgegen der Erwartung ein hektisches, schnelles Stück. Zum Auftakt Tyner in einem virtuosen Solo, das von Garrison streckenweise mit Walking Bass unterlegt wird, Jones donnert einen Puls, der aber stets flexibel bleibt. Coltrane steigt mit rasanten Läufen ein, greift das Metrum auch kurz auf, bevor er wieder in seinen wahnhaften repetitiven Motiven verschwindet, die sich in einen Cry steigern, wieder fallen lassen, bloss um wieder aus dem Malstrom aufzutauchen. Unglaublich tolle Musik!

Von „Dearly Beloved“ gab’s übrigens einen ersten kompletten Take, von „Attaining“ zwei (der dritte war dann der Master) und von beiden einen false start bzw. breakdown, von „Sun Ship“ zwei breakdowns, von den anderen beiden Stücken jeweils nur der Master Take. Obwohl Coltrane die Musik nur mit minimalen Anweisungen (in der 8CD-Box The Classic Quartet ist vor „Dearly Beloved“ eine solche zu hören) erläutert hat, scheint die Gruppe mit höchster Konzentration am Werk gewesen zu sein.

Am 2. September war das Quartett dann zum allerletzten Mal im Studio, um eine erste Fassung der Suite „Meditations“ aufzunehmen. Coltrane nahm eine ähnliche Suite (einer der fünf Teile wurde ersetzt, die Reihenfolge umgstellt) im November mit der um Pharoah Sanders und Rashied Ali erweiterten Gruppe auf. Diese frühe Fassung erschien 1977 als First Meditations (For Quartet) (AS-9332).
Die fünf Teile der Suite wurden in zwei Gruppen aufgenommen (wie auf der „master“ Version im Sextet): „Love“ / „Compassion“ / „Joy“ und „Consequences“ / „Serenity“. Voran gingen beiden Teilen jeweils ein bzw. zwei Breakdowns.
Im ersten Teil, „Love“, spielen Tyner und Coltrane in einer ruhigen Stimmung sehr lyrische, dem Titel angemessene Soli. Herausragend Garrisons einfühlsame Begleitung. Auch in „Compassion“ ist Garrison stark zu hören, als Bindeglied zwischen Jones‘ rumpelndem 3/4 Takt und Tyners immer gelösteren jedoch stets lyrischen Einwürfen. Die Gruppe baut langsam Spannung auf, die Musik kommt in Fahrt. Coltrane soliert zweimal, dazwischen Tyner. Das Metrum bleibt fest, aber Jones spielt so üppig, dass es überall hinüberschwappt… in Coltranes abschliessendem, kochenden Solo schliesslich legt Jones schnelle Rhythmen über den Beat, der kaum mehr wahrzunehmen ist. Es folgt „Joy“ – die Musik wird noch intensiver. Das thematische Material ist wie bei „Sun Ship“ und „Amen“ auf ein absolutes Minimun reduziert. Der Beat ist wieder recht konstant, das tut der Musik jedoch kaum Abbruch, Coltrane steigert sich nach Tyners Solo wieder in ein intensives, fast dialogisches Solo, in dem er zwischen dem Falsett und dem unteren Register hin und herspringt.
„Consequences“ ist dann der freieste Teil der Suite – er zeigt, dass Tyner und Jones durchaus in der Lage waren, mit Coltrane mitzugehen bis zum äussersten. Sein eigenes Solo erinnert stark an die zeitgenössischen Avantgarde-Saxophonisten Pharoah Sanders und Albert Ayler. Auch Tyner erinnert hier streckenweise an Cecil Taylor, sein Spiel verliert die klaren Konturen, verflüssigt sich und wird dabei zugleich noch perkussiver. Er spielt aber auch hier mit Vorwärtsdrang und Energie (nicht flächig wie Alice Coltrane später). Coltrane selbst ist es aber, der die Highlights beisteuert! Ein kurzer Bass-Lauf, ein wenig Schlagzeug, Piano-Tremolos und gestrichener Bass und wir sind im letzten Teil der Suite, „Serenity“, der den Bogen schliesst und mit seinem langsameren Tempo wieder Ruhe einkehren lässt, eine starke, bewegte Ruhe, die Kraft ausstrahlt und Selbstverständlichkeit – und das gilt für Tyner mindestens so stark wie für Coltrane. Das Stück endet mit einem kurzen Wirbel von Elvin Jones.

Am 22. September nahm das Quartett in San Francisco ein allerletztes Mal in der Stammbesetzung auf, ein weiterer, längerer Take von „Joy“ entstand, der zuerst 1972 mit Overdubs (Alice Coltrane an Harfe und Vibraphone, Charlie Haden am Bass sowie Streicher) und gekürztem Bass-Solo auf Infinity (AS 9225), später in der ursprünglichen Version auf Feelin‘ Good (IZ 9345) und anderen Alben erschien (auch auf der GRP-CD von First Meditations).
Diese zwölf Minuten zeigen in nuce noch einmal alles das, was das Coltrane Quartett zu einer so ausserordentlichen und spannenden Gruppe werden liess: Musik, in der es um alles geht, die offen ist, unberechenbar, die in der Gruppe entsteht, in der es um mehr als den Beitrag des einzelnen geht – auch wenn der einzelne (hier Garrison mit einem ausführlichen Solo) keinesfalls wenig Freiraum hat, sich zu entfalten.

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