Re: Chronological Coltrane

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Habe in der Zwischenzeit das Complete 1961 Village Vanguard Recordings wieder in kompletter Version und höre jetzt die vierte CD… ich erlaube mir, um alles an einer Stelle zu haben, den alten Post (#189) hier in vollem Umfang zu zitieren und am Ende fortzuschreiben.

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Ich hör jetzt auf (bzw. nehme es mir vor), alle aufnahmen „grandios“ und „grossartig“ zu finden… dann ab Oktober 1960 trifft das für mich generell auf fast alle Coltrane-Alben bzw. -Sessions sowieso zu (Ausnahmen? Die Softie-Trilogie wohl am ehesten, die sind alle sehr schön, aber grossartig find ich alle drei nicht… sonst wird’s schon schwierig… vielleicht 1965, als beim Quartett langsam die Luft raus war, Coltrane wieder nach neuen Wegen suchte… aber irgendwie find ich auch das fast alles grossartig zu hören!)

Also, die letzten Abende im Village Vanguard hat Impulse aufgenommen. Neben Coltrane, Tyner, Workman und Jones waren zugegen: Eric Dolphy (endlich auch an der Bassklarinette, aber auch am Altsax, die Flöte hört man hier nicht), Jimmy Garrison als zweiter Bassist, sowie auf bestimmten Stücken Ahmed Abdul-Malik an der Tanbura sowie Garvin Bushell an der Oboe und dem Kontrabassfagott. Auf einem Blues spielt Roy Haynes anstelle von Elvin Jones (er sollte in den kommenden Jahren ab und zu einspringen, sowohl live als auch im Studio).

Los geht’s am 1. November gleich mit dem exotischsten Stück der Sessions, India (zuerst in der 4CD Box erschienen). Coltrane am Sopran, Dolphy an der Bassklarinette, beide Bässe und eine Drohne, die von Abdul-Malik an der Tanbura produziert wird (danke Coltrane Reference! Ich hatte schon immer Zweifel daran, dass das eine Oud sein sollte, wäre ja ein arger Missbrauch!). Das Stück zeigt erstmals Coltranes Faszination für die Indische Musik. Das ist wohl die Musik, die LeRoi Jones auf Platte hören wollte!
Es folgt ein erster Take von Chasin‘ the Trane (ts, as, Workman, Jones – The Other VV Tapes), Coltrane spielt ein Tenorsolo, in dessen Verlauf sich die Phrasen auflösen, in kurze Fragemente zerfallen. Es folgt Dolphy mit einem typischen flüssigen Altsolo mit diesen irrwitzigen riesigen Sprüngen. Ähnlich geht’s weiter mit Impressions (ts, as, Tyner, Garrison, Jones – Trane’s Mode). Dolphy und Coltrane sind ein fantastisches Bläser-Paar, schade, dass sie nicht später wieder zusammentraffen!
Es folgt ein erster Take der neben „India“ anderen grossen Nummer dieser Sessions, Spiritual – hier noch im Quintett (ss, bcl, Tyner, Workman, Jones – The Other VV Tapes). Das Stück wird bei allen vier Versionen ähnlich präsentiert: Melodie (in C-moll) von Coltrane im Rubato (die Melodie beruht auf einem echten Spiritual), Coltrane-Solo über ein „two-chord minor scale pattern“, Dolphy-Solo über ein „two-chord major scale“ Pattern, dann Tyner in C-Moll, dann wieder das Thema. (Diese Beschreibung, gemäss David Wilds Liner Notes im 4CD-Set, soll vor Augen halten, wie Coltrane seit „My Favorite Things“ oder „Olé“ seine Stücke strukturiert… mit dieser Art von Strukturen kann man endlos spielen, hat die Freiheit, so lange zu solieren, wie man wünscht).
Es folgt ein Dolphy-Stück, Miles‘ Mode (aka „Red Planet“, ts, as, Tyner, Workman, Jones – Trane’s Modes), das auf einer Zwölftonreihe (die verkehrt herum wiederholt wird) beruht. Coltrane und Dolphy schrammen hier hart an der Grenze zum Atonalen vorbei – das Stück lädt natürlich dazu ein, auch wenn es modal strukturiert ist. Weiter geht’s mit dem ersten Take von Naima (ts, bcl, Tyner, Workman, Jones – Trane’s Modes) – „other-worldly“! Coltrane präsentiert nur das Thema, dann folgt ein wunderschönes Solo von Dolphy – seinen Solo-Exkursionen über „God Bless the Child“ ebenbürtig! Tyner geht in Doubletime, Elvin swingt wunderbar mit den Besen, dann nochmal Trane zum lyrischen Ausklang.
Es folgt ein weiteres aussergewöhnliches Stück: Brasilia (ts, as, Tyner, Workman, Jones – als „Untitled Original“ auf The Other VV Tapes), ein modales Stück, das mit einem Rubato beginnt (man höre auf Workman hier!), dann in einen swingenden mittelschnellen 4/4 wechselt, Coltrane spielt mit kleinen Ideen und Riffs, beugt den Ton, konstruiert ganz gelassen ein unglaubliches Solo (das Stück dauert 18 Minuten!), und dann folgen Dolphy, Tyner und Workman mit schönen Soli. (Eine ziemlich andersklingende Version von „Brasilia“ findet sich auf dem 1965 aufgenommenen Album „The John Coltrane Quartet Plays“.)

Am zweiten Aufnahmetag, dem 2. November, geht’s los mit dem einzigen Stück mit Roy Haynes am Schlagzeug. Chasin‘ Another Trane (ts, as, Workman, Haynes, Tyner hört kurz nach dem Anfang auf, mitzuspielen – Trane’s Modes) dauert über eine Viertelstunde und wird geprägt von Haynes leichterem (aber kaum weniger komplexen) Schlagzeugspiel. Coltrane konstruiert ein weiteres dieser Singsang-Soli, Dolphy spielt zwischendurch kurz eins seiner typischen vokalen Altsoli, und dann wieder Coltrane – wunderbar!
Es folgt die zweite Version von India (ss, bcl, Tyner, Garrison, Workman, Jones, Abdul Malik, Bushell an der Oboe – From the Original Master Tapes, CD 1985). The plot thickens… tolle Musik! Und gleich drauf die zweite Version von Spiritual (ts/ss, bcl, Tyner, Workman, Jones, Bushell am Kontrafagott – From the Original Master Tapes, CD 1985).
Dann folgt das erste Stück, das fürs ursprüngliche Album (dem einige ja Vorwarfen, Dolphy quasi rauszuzensieren) gewählt wurde: eine wunderbare Version des Standards Softly As In a Morning Sunrise (ss, Tyner, Workman, Jones – Live at VV), den 1957 auch Sonny Rollins im Vanguard aufnahm (zu hören auf seinen klassischen Blue Note Aufnahmen „Live at the Village Vanguard“ – am besten die RVG Edition Doppel-CD mit allen Aufnahmen suchen!). Tyner spielt ein langes Solo, Jones swingt unglaublich, dann kommt Coltrane rein, für einmal Sopran ohne Walzer oder Exotica, einfach ein medium-up Swinger… und die Post geht ab!
Es folgt gleich das nächste Stück vom ursprünglichen Album und eins der grossen Highlights aus Coltranes ganzer Karriere: Chasin‘ the Trane (ts, Garrison, Jones – Live at VV, frühere Ausgaben nannten fälschlicherweise Workman als den Bassisten). Coltrane spielt in schnellem Tempo 16 Minuten lang Blues-Chorus nach Blues-Chorus… so ungefähr stell ich mir das vor, was Gieske (Post #364) meint, einfach dauerte das dort noch viel länger!
Dann folgt eine kürzere Version von Greensleeves (ss, Tyner, Workman, Jones – The Other VV Tapes) – gut, das in schöner RVG-Qualität zu hören nach den zwei Bootleg-Versionen, die ich gestern und heute morgen gehört habe!
Impressions (ts,as, Tyner, Garison, Jones – Impressions, 1963) ist auch eine der klassichen Coltrane-Nummern. Das Stück basiert auf einer Stuktur, die ähnlich funktioniert wie „So What“: 32 Takte, AABA (also vier 8er Gruppen), wobei der B-Teil in einer anderen Tonart gespielt wird als die A-Teile. Es gibt also eine feste Form, aber innerhalb dieser ist ziemlich alles frei. Coltrane (ohne Piano-Begleitung) und Dolphy nutzen dies für tolle Soli!

Die Aufnahmen vom 3. November beginnen mit der dritten Version von Spiritual (ts/ss, bcl, Tyner, Workman, Jones – Live at the VV), dem letzten Stück des ursprünglichen Albums. Hier wird auf Bushell leider verzichtet, das Stück ist dennoch Klasse!
Es folgt die zweite Version von Naima (ts, bcl, Tyner, Workman, Jones – erstmals in der 4CD Box zu hören), wieder mit Dolphy als Hauptsolist. Wunderbar schon das eröffnende Thema, mit Auschmückungen von Elvin Jones! Dolphy spielt wieder ein wunderschönes Solo, Tyner wieder in Doubletime… weiter geht’s mit der zweiten Version von Impressions (ts, Tyner, Garrison, Jones – Impressions, Dolphy ist im Schlusston auch zu hören). Es wird bei diesen beiden Versionen klar, weshalb Coltrane das Stück anscheinend damals als „So What“ angesagt oder angezählt hat – das Thema ist wirklich sehr ähnlich! Coltrane gibt in seinem Solo sofort Gas, spielt kurze, zerrisssene Phrasen, konstruiert daraus ein unglaubliches Solo!
Als nächstes folgt die dritte Version von India (ss, bcl, Tyner, Garrison, Workman, Jones – Impressions), dem pièce de résistance der 1961er Village Vanguard Sessions

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Hier geht’s nun also weiter… mit einer zweiten, wunderbaren Version von Greensleeves (ss, Tyner, Workman, Jones), in der besonders das Bass-Spiel von Workman auffällt – es klingt streckenweise schon fast nach dem „Flamenco“-Bass, wie er Garrison später so oft zu hören sein würde.
Weiter mit Miles‘ Mode (ts, as, Tyner, Garrison, Workman, Jones – zum ersten Mal in dieser Box veröffentlicht). Unglaublich, wie die beiden Bassisten mit Jones ein Fundament schaffen, das sowohl drohnenartig starr ist und zugleich höchst bewegt, als würde sich die Betonung des Beats konstant leicht ändern… darüber spielen Coltrane und Dolphy swingende Soli (und – man erlaube mir diesen Anachronismus – Dolphys satter Sound und grade Phrasierung sind spannend zu hören nach all den Aufnahmen von später, die ich seither gehört habe… er scheint mir – bei allem Respekt – einiges altmodischer als Coltrane zu spielen, viel mehr „inside“, was die Rhythmik und über weite Strecken auch die Tongestaltung betrifft). Dolphys Solo ist gewaltig! Tyner setzt erst danach für sein eigenes Solo ein.

Am 5. November nahm die Gruppe nochmal India und Spiritual auf (beide erschienen auf „The Other Village Vanguard Tapes“). India (ss, bcl, Tyner, Garrison, Workman, Jones, Ahmed Abdul-Malik an der Oud, Garvin Bushell an der Oboe) ist dieses Mal mit der „grossen“ Besetzung zu hören. Die Gruppe schafft – ähnlich wie auf dem Titelstück von „Olé“ – eine atmosphärische Stimmung, die über Elvins dichten Rhythmen von den beiden Bassisten getrieben wird. Tyner setzt wieder über weite Strecken aus. Das Stück beginnt mit einem leicht orientalisch angehauchten Sopransolo Coltranes über den Drohnen, die Abdul-Malik und die Bässe gemeinsam aufsetzen. Es folgt das Thema über einem bereits heftig von Elvin getriebenen Beat und daraus Coltranes erstes Solo. Dolphy folgt mit einem tollen Bassklarinettensolo, und dann zum Ende gleich nochmal Coltrane, der mit Trillern in hohen Lagen einsteigt und ein mäandrierendes, intensives Solo bläst (über sparsamen Piano-Tupfern von Tyner und einem immer mehr aufdrehenden Elvin Jones).
Zu guter letzt nochmal den Spiritual (ts/ss, bcl, Workman, Jones, Bushell), mit Garvin Bushell am Kontrabassfagott, das die Präsentation des Themas prägt. Im Call-and-Response beginnt Coltrane das Thema, während Bushell einen fortlaufenden, dröhnenden Grundton legt. Dann wechselt das Stück in ein satt swingendes 4/4, das Jones wieder von Anfang an mit vielen Einwürfen und diversen Rhythmen umspielt. Bushell bläst ein simples Ostinato und Workman spielt sehr agil zwischen diesem und seinen eigenen Fills und Ideen hin und her. Grossartig – und das ist erst der Beginn von über 20 Minuten! Coltrane nimmt sich in seinem folgenden Solo viel Zeit, baut langsam auf, steigert sich stetig, spielt zwischendurch kurz diese immer öfter zu hörenden kurzen Phrasen, die er repetiert und dreht und wendet, um dann aber rasch wieder zur getrageneren Grundstimmung zurückzufinden. Und Bushell bläst – leider sehr leise im Mix – stetig weiter, während Workman von repetierten Einzeltönen bis zu kurzen Ausflügen in hohe Lagen mit grosser Freiheit und grossem Drive begleitet, Tyner einen feinen Teppich legt, und Jones auf seine behäbig-träge Art (ja, ich kann mir vorstellen, dass er da mal gegähnt hat während er grad drei verschiedene Metren am laufen hatte!) mit Coltrane dialogisiert und das Stück auf seine ganz eigene Art prägt. Ungefähr zur Halbzeit der Aufnahme beginnt Dolphy sein Bassklarinettensolo – auch er beginnt getragen, nachdenklich, seine rasanten Läufe werden zu Beginn nur kurz angerissen, angetönt, dann steigert er sich in einen sehr stimmhaften Monolog. Es folgt Tyner, die Musik beruhigt sich ein wenig. Zum Abschluss spielt Coltrane dann noch ein kurzes Sopran-Solo, während Tyner aussetzt (Bushell hat schon vorher ab und zu Pause gemacht) und Workman/Jones die Intensität runterfahren… um nochmal dem Call-and-Response-Thema Platz zu machen, das Coltrane nun auf dem Sopran spielt. Wunderbar! Für mich ist dieses letzte Stück eins der grossen Highlights des ganzen Sets!

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