Antwort auf: Chronological Coltrane

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Frühling 1965 (Fortsetzung/Ende)

1965 war wie oben schon angedeutet ein extrem reichhaltiges und ereignisreiches Jahr in Coltranes Karriere – und auch das, in dem er einen nächsten musikalischen Durchbruch erzielte, vermute ich.

1964 hat er mit zwei grossartigen und in ihrer starken Schönheit bis heute betörenden Alben – Crescent und A Love Supreme – eine Summer der bis dahin erarbeitete Musik gezogen (ähnlich wie ein paar Jahre zuvor mit Giant Steps). Die Musik war hymnisch, treibend, leidenschaftlich, lyrisch und unglaublich stark, alles in einem (ich hab das oben schon kurz zu beschreiben versucht – in diesem Post, am Ende meine eigenen Worte dazu).
Nachdem im Frühjahr also die unglaublichen Live-Mitschnitte im Half Note und die Sessions für das wohl letzte „klassische“ Quartett-Album, The John Coltrane Quartet Plays aufgenommen worden waren, ging’s im Sommer mit grossen Schritten voran.

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10. Juni: Der grosse Teil des postumen Albums Transition (AS-9195, erschienen ca. September 1970) entstand, mit Elvin Jones zurück am Schlagzeug (es gibt in „Coltrane Reference“ übriges – müsste auf S. 323 sein – keinen Hinweis, weshalb Haynes die Session vom 26. Mai gespielt hat und auch für den Gig vom 31. Mai – 5. Juni in Philadelphia wird nichts vermerkt, d.h. es ist davon auszugehen, dass Jones dort gespielt hat, denn Veränderungen des Line-Ups werden sonst immer nachgezeichnet).

Das Stück „Welcome“ erschien zuerst auf dem Album Kulu Sé Mama (AS-9106, erschienen ca. Januar 1967). „The Last Blues“ erschien auf der CD Living Space (IMP 12462, 1998), ist überdies auch auf der 8CD Box The Classic Quartet (1998) und der 4CD Compilation John Coltrane Legacy (2002) zu finden. Das „untitled original [90314]“ erschien zuerst auf dem Doppel-Album Feelin‘ Good (IZ 9345-2, 1978) und ist auch auf Living Space und The Classic Quartet zu finden. Das Titelstück und die „Suite“ erschienen neben AS-9195 auch auf einer Compilation (John Coltrane Collection Vol. 2, auch 90314 war dort zu finden) und sind auf und The Classic Quartet ebenso zu finden. What a mess!

„Welcome“ ist eine Art – so blöd es klingt – musikalischer Segen, eine ganz einfache Hymne (klingt so halb nach „Happy Birthday“), die Coltrane nach einem Piano-Intro ganz im Rubato vorträgt. Aus Nat Hentoffs Liner Notes zu AS-9106:

„Welcome“, Coltrane explains, „is that feeling you have when you finally do reach an awareness, an understanding which you have earned through struggle. It is a feeling of peace. A welcome feeling of peace.“ And accordingly, the performance is serene. Temporarily serene, for in Coltrane’s view of man in the world, there are always further stages to work your way toward. The striving is ceaseless. It is not striving in competition with others, but rather a striving within the self to discover how much more aware one can become.

~ Nat Hentoff, original liner notes to „John Coltrane – Kulu Sé Mama“ (Impulse AS-9106)

Mit dieser sehr treffenden Charakterisierung Coltranes enden auch Hentoffs Liner Notes.

„The Last Blues“ ist ein weiteres kurzes Stück, das Coltrane ganz allein eröffnet, die Rhythmusgruppe setzt im ersten und letzten Chorus die ersten vier Takte aus. Es handelt sich bei dieser Aufnahme anscheinend um die allerletzte, die Coltrane in der klassischen 12-taktigen Blues-Form gemacht hat, daher wurde 1998, als das Stück erstmals veröffentlicht wurde, wohl dieser Titel gewählt. Wenn die Rhythmusgruppe einsetzt, geht’s hier wieder richtig zur Sache, mit dem patentierten Medium-Swing, den Jones so toll beherrschte – keine wichtige oder überragende Aufnahme, aber ein letzter Blick auf das klassische Quartett, ganz ohne Hymnen und Rubato.
Mit „Untitled Original 90314“ (die Nummer steht ganz einfach für die Master-Nummer) kann man eine Idee bekommen davon, wie das Quartett live gespielt hat. Coltrane spielt über Bass/Drums ein suchendes Solo über diesem modalen Stück, er lotet das obere Register des Tenorsaxophons aus… Tyner setzt an einem äusserst intensiven Punkt ein mit seinem Solo und es gelingt ihm, die Spannung zu halten, bis Coltrane noch einmal (wieder ohne Piano) kommt und das Stück abschliesst. Das ganze dauert fast eine Viertelstunde. Diese Art Aufnahme wurde zu Lebzeiten Coltranes kaum veröffentlicht, was sehr schade ist!
Es folgt „Transition“ (in den Session Logs als „Crescent 3“ – es bildete mit „Crescent“ und „After the Crescent“ mal eine Suite), ein weiteres modales Stück, etwas über eine Viertelstunde lang. Jetzt ist das Quartett richtig warmgespielt, Tyner begleitet Coltrane hier durchgängig und Elvin Jones ist schon kurz nach Beginn in seinem Solier-Begleit-Modus. Garrisons Bass ist oft mehr gefühlt als gehört, streckenweise wird er wie schon im „Untitled Original“ fast zu einer weiteren Bass-Trommel.
Dann folgt das Herzstück dieser Session, eine unbetitelte „Suite“ in fünf Teilen. „Prayer and Meditation: Day“ beginnt mit einer kurzen „invocation“, dann geht’s rasch in ein schnelles, treibendes Tempo über, Tyner klingt hier (für seine Verhältnisse jedenfalls) sehr frei, Jones ist kurz davor, den Beat aufzubrechen. „Peace and After“ ist ein unbegleitetes Bass-Solo von Garrison. Dann wird das schnelle Thema wieder aufgegriffen: „Prayer and Meditation: Night“, dann folgt Elvins Solo: „Affirmation“, und zum Ende wieder das Thema: „Prayer and Meditation: 4 a.m.“. Die letzte Passage wird im Rubato gespielt, bzw. die Musik ist intensiv genug, dass ich das jetzt (rhythmisch) „frei“ nennen will, Coltrane brennt! Dann gib’ts ganz zu Ende den Wechsel ins mittlerweile sehr vertraute lyrische Rubato. Insgesamt ist diese Suite wohl eine Art Versuch, etwas ähnliches wie in „A Love Supreme“ zu schaffen, gewissen Ähnlichkeiten sind nicht zu überhören. Die Musik ist allerdings weniger dramatisch (weniger variiert, das Spiel ist dichter, lässt ausser in Garrisons Solo weniger Raum) und das ganze ist auch einiges kürzer. Dennoch ein tolles Stück Musik!

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16. Juni: Die nächste Impulse Studio-Session, wieder zerstückelt veröffentlicht. „Living Space“ (mit den Overdubs von Alice Coltrane, 1972), „Dusk Dawn“ und „untitled original [90320]“ erschienen zuerst auf Feelin‘ Good, „Vigil“ auf Kulu Sé Mama. Alle vier finden sich auch auf John Coltrane Collection Vol. 3. Auf The Classic Quartet ist das auch alles zu hören, und es kommt ein ein Alternate Take (mit breakdown und p-rehearsal) dazu. Auf dem CD-Reissue von Kulu Sé Mama (2000) erschien zudem ein zusätzlicher, sonst nirgends zu hörender Take von „Dusk Dawn“.

„Living Space“ ist das letzte Sopransax-Stück, das Coltrane im Studio mit dem Quartett aufgenommen hat. Auf The Classic Quartet gibt’s einen Breakdown und einen Alternate Take ohne die zweite, im Overdub-Verfahren eingespielte Sopransax-Stimme. Diese macht jedoch den besonderen Reiz des Masters aus! Das Stück beginnt lyrisch, Rubato… eigentlich wie ein klassisches Tenor-Featurer jener Zeit. Tyner begleitet wie üblich, wenn Coltrane Sopransax spielt. Der Master mit dem Overdub ist noch lyrischer, zwei Sopransax-Stimmen, die wie ein grosses Vibrato oder ein Echo klingen, dazu Garrisons gestrichener Bass, sehr schön!
Vom nächsten Stück, „Dusk Dawn“, wurde auf der CD Kulu Sé Mama erstmals der erste Take veröffentlicht. Das Thema ist knapp, der Master ist etwas ausführlicher. Tyner spielt ein tolles Solo und Garrison hat noch einmal die Möglichkeit, unbegleitet zu solieren – das Resultat ist eins seiner dramatischsten Statements überhaupt!
„Vigil“ dann ist ein Highlight dieser Sessions vom Juni – das einzige Stück, das Coltrane und Jones ganz im Duo jemals im Studio aufgenommen haben. Ein sehr intensives Stück, das aber zugleich eine grosse Ruhe ausstrahlt.
Zum Abschluss gibt’s noch ein „Untitled Original“, das gemäss seiner Master-Nummer auch als „30920“ bekannt ist. Der Beat löst sich hier zunehmend auf, Jones und Tyner bewegen sich freier, das Metrum wird flexibel, Garrison ist wieder mehr gehört als gefühlt, er spielt definitiv keine klassischen Walking-Linien mehr. Der flexible Beat zieht sich unter Coltranes Tenorsolo hin und bleibt auch bei Tyner, Garrisons Begleitung ist streckenweise minimal, wie eine Trommel auf einem einzigen Ton, dann streut er rasante Läufe ein. Ein schöner Abschluss dieser Sessions!

Ich will nicht behaupten, diese beiden Sessions seien grandiose, versteckte Schätze, aber ich vermute doch, dass sie einiges bekannter und geschätzer wären, wenn sie damals in etwas weniger chaotischer Form zu hören gewesen wären! Sie entsprechen auch eher dem Bild, das Coltranes Live-Musik abgibt als die Sessions, die auf The John Coltrane Quartet Plays ca. im August 1965 erschienen sind.

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David Wild, der als Liner Notes-Autor irgendwann von Ashley Kahn abgelöst wurde, schreibt in seinen Notes zur 2000er CD von Kulu Sé Mama, dass die Fülle an Aufnahmen aus dieser Zeit möglicherweise damit zusammenhänge, dass die Gruppe im Frühling und frühen Sommer 1965 wenig Auftritte absolvierte.

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19. Juni: Pittsburgh Jazz Festival, Civic Arena, Pittsburgh, PA
Das Programm: Freitag – MJQ, Art Blakey (der für Miles einsprang), Monk, Basie; Samstag – Earl Hines, Carmen McRae, Stan Getz, Coltrane, Ellington; Sonntag – M.L. Williams, Muddy Waters, Brubeck, Jamal, Dizzy und Woody Herman. Das alles in drei Tagen, unglaublich!
Down Beat (29. Juli 1965, S. 11, ein gewisser Roy Kohler) fand Coltranes Quartett gerade im Vergleich mit Getz unterdurchschnittlich und merkte an: „Even the most dyed-in-the-wool Coltrane fans seemed confused as to whether the saxophonist was kidding or not.“ (zit. nach: Coltrane Reference, 323). Allerdings schrieb dann ein Barry G. Parsons einen Leserbrief, in dem er die Dinge wieder richtigstellte: „It was Stan Getz, not John Coltrane, who was below par. Getz‘ flat, routine soloing was anything but ‚captivating‘ […] Coltrane, along with Earl Hines and Gary Burton, provided the artistic highlights of the evening.“ (Down Beat, 9. September 1965, S. 9, zit. nach: Coltrane Reference, 323). Burton hat wohl mit Getz‘ Quartett dort gespielt… dazu gibt’s in der Verve CD „Nobody Else But Me“ lustige Erinnerungen von Burton an seine Zeit mit Getz – die beiden scheinen menschlich zumindest zu Beginn komplett inkompatibel gewesen zu sein!

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Am 28. Juni holte Coltrane sich neben Freddie Hubbard ein paar Exponenten der jungen New Yorker Avantgarde ins Studio: Die Tenoristen Pharoah Sanders und Archie Shepp, die Altsaxer Marion Brown und John Tchicai (der aus Dänemark stammt), sowie den Trompeter Dewey Johnson. Art Davis sprang mal wieder als zweiter Bassist ein.
Mit dieser Aufnahme engagierte Coltrane sich ganz klar für das „New Thing“ – er gab seinen Namen, aber nicht nur das, er schrieb ein Stück, das sich voll und ganz der Ästhetik des „New Thing“ verschrieb. Coltrane erhob sich damit gewissermassen zu einer Vaterfigur für die jungen Wilden. Das war eine sehr erstaunliche Entwicklung (trotz allen Anzeichen), denn mit A Love Supreme, das anfangs 1965 sehr schnell veröffentlicht wurde, war Coltrane endgültig zu einem der grossen Stars der Jazz-Szene geworden. Das Album wurde Ende des Jahres von Down Beat und Jazz zum „Album of the Year“ gewählt und die Leser von Down Beat wählten Coltrane zudem zum Musiker des Jahres, zum besten Tenorsaxophonisten, und erhoben ihn auch noch in die „Hall of Fame“ (als dritten Tenorsaxophonisten nach Coleman Hawkins und Lester Young). Niemand hatte davor auf einmal in so vielen Kategorien der Down Beat Umfragen gewonnen.

Anstatt sich auf diesen Lorbeeren auszuruhen hat sich Coltrane mehr und mehr für junge Musiker eingesetzt, die wie er auf der Suche nach etwas neuem waren – er unterstützte Archie Shepp (der auf Coltranes Label Impulse eine Reihe eindrücklicher Alben aufzunehmen begann), Pharoah Sanders und Marion Brown (letzterer machte für Impulse das schöne Album „Three for Shepp“, Sanders auch eine ganze Reihe von Alben, die allerdings meiner Meinung nach nie an das heranreichen, was Sanders auf Coltranes Alben erreicht hat). In diesem Rahmen ist auch Coltranes Auftritt am 28. März zu sehen (s.o.).

Das Resultat der Studio-Session mit diesen Exponenten des „New Thing“ war das grandiose Album Ascension. Die Musik wurde offenbar von Coltrane im Studio ausgearbeitet – hier eine Passage aus Lewis Porters Liner Notes für die CD-Ausgabe von 2000:

The piece begins with a five-not theme, somewhat like that of „A Love Supreme“, which Coltrane states at the beginning and which is taken up again at various points after that. In his autobiography, What a Wonderful World (Oxford University, 1995), Thiele recalled that Coltrane handed out sheet music at the session. It’s uncertain just what he handed out; in the original liner notes Shepp is quoted as saying, „The ensemble passages were based on chords, but these chords were optional . . . . In those descending chords there is a definite tonal center, like a B-flat minor. But there are different roads to that center.“ […] Marion Brown stated, „Trane had obviously thought a lot about what he wanted to do, but he wrote most of it out in the studio. He played this line and he said that everybody would play that line in the ensembles. Then he said he wanted crescendi and decrescendi after every solo.“
Several commentators have noticed that „Ascension“ seems to be loosely based on scales, which are more easily heard than chords in this dense ensemble. […] During most of the ensemble passages, Coltrane evidently signaled by his playing (and probably by gestures as well) when to change chords, with corresponding changes in scales. The other musicians then start with the indicated scale but quickly branch out from there. For the individual solos, the first scale, B-flat minor, is the general foundation.

~ Lewis Porter, liner notes to „John Coltrane – Ascension“ (Verve 2000)

Mehr kann und will ich hierzu nicht sagen… die Aufnahme dürfte ja sowieso ziemlich weitrum bekannt sein :-)

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(Kleine Anmerkung: dieser Post ist deswegen kürzer, weil ich nicht dazu komme, täglich viele Stunden Coltrane zu hören, bzw. zwischendurch vermehrt anderes hören will… mal sehen wie’s weitergeht, nach „Ascension“ folgen die Live-Aufnahmen aus Newport und Europa, im Herbst dann die letzten Quartett-Sessions mit Tyner/Jones (darunter eins meiner allerliebsten Coltrane-Alben, Sun Ship – für mich eins der schönsten Free Jazz Alben überhaupt, also im ganz klassischen Sinne „schön“!) sowie weitere Aufnahmen mit grösseren Formationen und Ende November schliesslich ein nächstes Highlight, Meditations.

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