Antwort auf: Chronological Coltrane

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Nachtrag: Birdland, 8. Oktober 1963: an diesem Tag wurde nicht nur der grösste Teil des Impulse-Albums Live at Birdland aufgenommen, fast fünfzig weitere Minuten an beinahe noch intensiverer Musik wurden dokumentiert: „Traneing In > Mr. P.C.“ und „Lonnie’s Lament“. Das hab ich mir soeben zum allerersten Mal angehört. Leider ist die Qualität der davon zirkulierenden Version nicht gerade grossartig, aber die Musik schon! Eine „Deluxe Edition“ mit zwei CDs wäre wohl angesagt gewesen, damals als die „Deluxe Editions“ von Coltrane und Ballads erschienen!

Herbst 1963

Der Schedule der Europa-Tournee 1963:

22. Okt: Konserthuset, Stockholm (19:00 und 21:15)
23. Okt: Njardhallen, Oslo (20:00)
24. Okt: Kulttuuritalo, Helsinki
25. Okt: Tivolis Koncertsal, Kopenhagen (20:00)
26. Okt: Concertgebouw, Amsterdam (zwei Konzerte, bis nach Mitternacht)
27. Okt: Teatro dell’Arte, Mailand (geplant 16:30/21:30, effektiv ca. 19:00/22:00)
30. Okt: Fruchthalle, Kaiserslautern (20:00)
31. Okt: Kongresshalle, Frankfurt am Main (20:00)
1. Nov: Salle Pleyel, Paris (21:00)
2. Nov: Audimax, Freie Universität, Berlin (20:00)
3. Nov: Kongress-Saal, Deutsches Museum, München (20:00)
4. Nov: Mozart-Saal, Liederhalle, Stuttgart (20:00)

Zum dritten Mal geht das Coltrane Quartett auf eine Europa-Tournee mit Norman Granz.
Aufnahmen entstanden in Stockholm, Kopenhagen, Paris, Berlin und Stuttgart. Davon sind wieder grosse Teile auf der Live Trane – The European Tours Pablo/Fantasy 7CD-Box enthalten.

Gleich am ersten Tag in Stockholm wurde das komplette Konzert mitgeschnitten – es ist in voller Länge auf CD4 (#4-6) und der ganzen CD5 des Pablo-Sets zu hören, allerings ist „Mr. P.C.“ falsch programmiert (es ist in „Coltrane Reference“ als Closer angegeben, folgt auf der CD aber nach „Traneing In“ als zweites Stück – das wäre ja eine seltsame Setlist, die die beiden ähnlichsten Stücke nacheinander programmieren würde). Auschnitte davon wwaren zuvor auf dem Pablo-Album The European Tours greifbar.
Die Setlist bestand aus: Traneing In, Naima, The Promise, Spiritual, Impressions, I Want to Talk About You, My Favorite Things, Mr. P.C. – im Vergleich zu den 1962er Konzerten sind neu dazugekommen: „The Promise“ (es wurde am 8. Oktober schon im Birdland aufgenommen und erschien auf Impulse AS-50) und „Spiritual“ von den 1961er Village Vanguard Sessions.
„Traneing In“ ist einiges kürzer geraten, beginnt aber wie gewohnt mit einem Klaviersolo. Dann folgt ein tolles Coltrane-Solo, kürzer und irgendwie gebündelter als sonst oft, vom Einstieg an völlig souverän. Weiter geht’s mit „Naima“ – sublim wie immer. Und dann kommen die neuen Songs: „The Promise“ beginnt schon grandios, Elvin gibt mit starker Hilfe Garrisons den Beat vor und umschmückt ihn, derweil Tyner sehr swingend das erste Solo übernimmt (und – jetzt bin ich mir sicher, bei „Traneing In“ hatte ich noch Zweifel – dazu in bester Jarrett-Manier mitmöhnt… also nicht mal das hat Jarrett selbst erfunden, he he he…). Nach etwas über viereinhalb Minuten steigt Coltrane mit dem Sopran ein, sein Ton klingt wunderbar hier, weich, voller, zumindest in den tiefen Lagen. Die Rhythmusgruppe kocht, und das Stück endet nach weniger als sieben Minuten, kurz und präzis – ein Highlight! Es folgt „Spiritual“ auf dem Tenor – wunderbar, wie Coltrane mit der Rubato-Einleitung in wenigen Tönen die Stimmung schafft. Das langsame Walking-Tempo gefällt Elvin Jones ausserordentlich und langsam beginnt er, immer mehr zu „füllen“, Tyner spielt teilweise fast drohnenartige, einfache Akkorde – das nächste Highlight! Weiter geht’s mit „Impressions“, das mit dem erwarteten, intensiven Coltrane-Solo auftrumpft. Spätestens in „I Want to Talk About You“ – mit grandioser Solo-Kadenz am Ende – wird endgültig klar, dass Coltrane seine Probleme mit dem Ton/dem Mundstück gelöst hat, er klingt wunderbar und absolut sicher. Das hindert ihn aber nicht, bei Stücken wie „Impressions“ oder „Traneing In“ diesen etwas weniger festen, etwas… unsteteren?… Ton beizubehalten, wie man ihn etwa ein Jahr zu vor schon hören konnte. Er hat möglicherweise aus der Krise heraus seine klangliche Palette erweitert. Zum Abschluss folgt „My Favorite Things“, mit 14 Minuten auch eher kurz gehalten – und wieder klingt Coltranes Sopran voll und weich, zumindest am Anfang, vor er die Intensität hochschraubt. Als allerletztes Stück folgt dann noch „Mr. P.C.“, das einzige Stück dieses Konzertes, das eher zwanzig als 10-14 Minuten dauert. Nach Tyners Solo, ist Elvin Jones zu hören, und dann steigt Coltrane ein mit einem intensiven Solo, unter dem Elvin mehr oder weniger weitersoliert. Anfangs spielen auch Tyner und Garrison mit, doch dann ensteht ein beinahe Free-Form-Duett, in dem auch der – ohne, dass ein fester Beat ganz aufgegeben würde – der Swing nicht weitergezogen wird. Es folgt ein kurzes Wiederaufgreifen des Themas… und Exit. Unglaublicher Abschluss!

The second concert was reviewed in Orkester Journalen („Inspired Coltrane Concert,“ by Lars Werner, Nov. 1963 [translated from the Swedish by Martin Paludan-Müller]):

John Coltrane’s second Stockholm concert on October 22 turned out to be one of the best ever given by the quartet. Power and inspiration fused in a process of musical creation of the utmost tension. […] Coltrane and Elvin Jones [performed several] long duets where incredible things happened. My only possible [criticism of Jones] is that he hardly ever leaves his cymbals; even touches at various rums are indicated by strokes at the cymbals, giving his playing a uniform character that easily overpowers the sound of the other musicians. In this respect his solo on „Mr. P.C.“ was ideal, and one hopes to find more or such qualities in his accompaniment [in the future].
[…] McCoy Tyner seems to have taken a definitive step forward as a soloist. […] A gem were his chord melodies behind Coltrane in Billy Eckstine’s pretty ballad „I Want to Talk About You“; in this piece Coltrane played an outstandting solo coda.
A remarkable alteration has happened [in Coltrane’s playing], from the Indian-Arabic to a Debussy-Ravel influence, [particularly] in „My Favorite Things“ where the long soprano cadences often sounded as though taken directly from some Debussy composition for woodwind instruments.

While in Stockholm, Coltrane purchased or was given an Albert Ayler record (Hultin, 2000, p. 161). This have been Something Different (BIrd Notes BNLP 1), Ayler’s first record, recorded by Swedish musician Bengt „Frippe“ NNordstrom and released on his private record label.

~ Coltrane Reference, 286

Am 23. Oktober hat Randi Hultin Coltrane vor dem Konzert in Oslo in seinem Hotel interviewt und ihn nach dem Konzert in ihr Haus eingeladen (wo Coltrane das Gästebuch signiert und mit den eröffnenden Takten von „Naima“ verziehrt hat). In der Pause hat Hultin die vier Musiker photographiert (Thomas, 1975, gegenüber S. 89).
Anscheinend kamen Jones‘ Drums zu spät und er musste sie vor dem Publikum aufstellen: „Elvin had to unback uand set up his kit, not only in front of the audience – but with Coltrane looking on as well. He leaned relaxedly against the grand piano and waited patiently while Elvin set up. Not a word was spoken.“ (Hultin, 2000, 161, nach: Coltrane Reference, 287).

Am 25. Oktober enstanden in Kopenhagen die nächsten Aufnahmen. Sie sind auf diversen Bootlegs greifbar, nichts davon erschien in der Pablo-Box. Die Setlist der erhaltenen Stücke: Mr. P.C., Impressions (inc), The Promise, Afro Blue, Naima, MFT.
Neben „The Promise“ taucht ein weiteres neues Stück auf, „Afro Blue“. Los geht’s mit „Mr. P.C.“, zuerst Tyner, dann ein langes Garrison-Solo, dann Jones, und dann diesmal direkt the Coltrane/Jones-Dialog. Das ganze dauert fast 24 Minuten! „Impressions“ enthält wieder ein langes Bass-Solo von Garrison, das nachfolgende Coltrane-Solo ist dann leider unvollständig, da das Stück nach 19.5 Minuten abbricht, als Coltrane noch mitten im Flug ist. Es folgen „The Promise“ und „Afro Blue“, mit ca. 10 bzw. unter 9 Minuten wieder kurz und kompakt, im ersten glänzt Tyner mit einem tollen Solo zu Beginn, „Afro Blue“ lebt vom ausserordentlich intensiven Groove Elvin Jones‘. Coltrane glänzt auf beiden mit durchdachten, wunderbaren Sopransax-Soli. Es folgt ein schönes „Naima“ und 17 Minuten „My Favorite Things“, wie üblich mit tollen Soli von Tyner und Coltrane.

Das Konzert aus Paris vom 1. November wurde wieder mitgeschnitten – zwei Stücke erschienen auf Pablo-Alben und sind jetzt in der Live Trane-Box zu finden, zwei weitere zirkulieren – die Setlist: Afro Blue, poss. The Promise, I Want to Talk about You (alle drei nicht erhalten), Impressions, MFT (Pablo), Everytime We Say Goodbye, Mr. P.C. (Pablo). Das Stück „Chasin‘ the Trane“, das manchmal diesem Konzert zugeschrieben wird, ist laut „Coltrane Reference“ von einem unbekannten Konzert dieser Tour („Aural evidence suggests that this performance is from the 1963 Europe tour.“ Coltrane Reference, 691).
Der Kritiker von
Le Monde fand das Konzert bis auf die langweiligen Bass-Soli toll. für Jazz Hot hat Jef Gilson eine Besprechung verfasst.
„My Favorite Things“ vom Live Trane Set ist klasse, mit 24 Minuten die längste Version von dieser Tour (die kürzeste ist etwas mehr als halb so lange – das spricht wohl dafür, dass die Gruppe sich einige Freiheit nahm im Verlauf der Konzerte). „Mr. P.C.“ dauert auch „nur“ 26:28 (die Stuttgarter Version sollte hier alles toppeln mit beinahe 36 Minuten). Garrison spielt sein Solo zuerst arco, wechselt dann zu pizzicato, aber richtig ab geht’s dann mit Coltrane! Neben den beiden offiziell veröffentlichten Stücken existieren eine kurze Aufnahme von „Everytime We Say Goodbye“ (das während dieser Tournee sonst nur in Stuttgart aufgenommen wurde) und eine lange (fast 23 Minuten) von „Impressions“.
Die von einem dieser Konzerte stammende Version von „Chasin‘ the Trane“ dauert etwas über fünf Minuten und bringt einmal mehr konzentriertesten Coltrane am Tenor, im Singsang-Modus, mit äusserst lebendiger Begleitung von Elvin Jones. Die Aufgabe des time keeping muss Jimmy Garrison fast alleine erfüllen. Tyner setzt wie üblich in diesem Stück aus, legt nur am Ende ein paar Akkorde.

Am 2. November spielte das Quartett in Berlin, die Aufnahme war auf dem Pablo Doppel-Album Afro Blue Impressions greifbar und ist jetzt die abschliessende in der 7CD-Box. Diesem Konzert wird überdies auch die letzte Aufnahme des 7CD-Sets, ein 27-minütiges „Impression“ zugeschrieben (auch das bleibt aber unsicher). Die Setlist: Lonnie’s Lament, Naima, Chasin‘ the Tranee, MFT, Afro Blue, Cousin Mary, I Want to Talk About You, ev. Impressions.
Eine Kritik aus dem Tagesspiegel (6. Nov. 1963, von „G.G.“) redet von einer Orgie und fährt auf der Rassen-Schiene (so explosive, kraftvolle Musik gebe es von Weissen nicht). Auch zum Münchner Konzert vom 3. November wird ähnliches geschrieben (SZ, 6. Nov. 1963, S. 6, von einem H. Krammer): „You cannot help feeling that this Mr. Coltrane – acting on stage so apathetic – mercilessly gets even with us, with the world of white people. The traditional relationship between artist and listener is broken; it is probably all the same to John Coltrane whether we like his music or not.“ Ziemlich dämliche Kritiker am Werk…
Die Aufnahme beginnt sehr lyrisch mit „Lonnie’s Lament“, einem Stück, das später auf Crescent, einem der allerschönsten Coltrane-Alben, erschienen würde. Es folgt „Naima“ und dann schaltet Coltrane einen Gang höher mit einem weiteren kurzen „Chasin‘ the Trane“, gefolgt von einem langen „My Favorite Things“. Weiter geht’s mit „Afro Blue“, „Cousin Mary“ (tolles Tenor-Solo!), „I Want to Talk About You“, und zum Ende (zugleich das letzte Stück der Live Trane-Box) folgt „Impressions“, 27 Minuten lang. Die neuen Stücke dieser 1963er Tour – „Afro Blue“, „The Promise“, „Spiritual“ – haben „Impressions“ etwas ins Abseits gedrängt, dabei war es das grosse Highlight der 1962er Tour. Hier, zum Abschluss, wird es allerdings wieder in sein Recht eingesetzt; Tyner setzt die Stimmung in einem langen, streckenweise akkordisch gespielten und äusserst intensivem Solo, dann folgt Garrison, dem man auf diesen Live-Aufnahmen förmlich beim Wachsen zuhören kann – er spielt ein sehr langes, wunderbares Solo! Es folgt der Dialog von Coltrane/Elvin, der in Sachen Intensität 1963 wohl seinesgleichen suchte! Mit diesem Highlight klingt die Pablo-Box aus (das Stück ist übrigens auf keiner LP zu greifen und soweit „Coltrane Reference“ vertrauenswürdig ist, auch auf keinem Bootleg zu greifen).

Am 4. November schliesslich fand in Stuttgart das letzte Konzert im Rahmen der „Treffpunkt Jazz“-Reihe statt. Es wurde vom SDR mitgeschnitten. Die Setlist: The Promise, Afro Blue, I Want to Talk About You, Impressions, MFT, Everytime We Say Goodbye, Mr. P.C. Die beiden längsten Stücke, „Impressions“ und „Mr. P.C.“ gehören zu den „most extraordinary of all Coltrane recordings. This important concert deserves to be released in its entirety through official channels.“ (Coltrane Reference, 698) – ein Urteil, dem ich mich nur anschliessen kann! Die Aufnahme beginnt mit „The Promise“ und „Afro Blue“, beide recht kurz gehalten, swingend. Dann folgt eine der schönsten Versionen von „I Want to Talk About You“, die ich aus Coltranes Werk kenne, mit einer fast fünfminütigen Solo-Kadenz. Die erste Hälft schliesst dann mit fast 29 Minuten „Impressions“ – wieder folgt auf Tyner ein sehr eindrückliches Bass-Solo, mit double stops und Anklängen an die Spielweise einer Flamenco-Gitarre, wie Garrison sie in den kommenden Jahren zu grosser Meisterschaft entwickeln würde. Coltrane spielt einmal mehr ein unglaubliches Solo über Jones‘ Begleitung. Linien lösen sich auf zu Fragmenten, zu „cries“, äussert vokal. Dann „My Favorite Things“, das nie fehlen durfte, eine schöne Fassung von „Everytime We Say Goodbye“, und zuletzt „Mr. P.C.“, das diesmal fast 36 Minuten dauert. Tyner soliert ausgiebig, Garrison/Jones bringen die Musik schon fast zum Siedepunkt. Nach ca. 7 Minuten beginnt Garrison völlig unbegleitet sein Solo – mit dem Bogen. Er geht dann in pizzicato über, und nach 11 Minuten steigt die ganze Band ein und Jones beginnt sein Solo. Coltrane soliert dann für die letzten ca. 20 Minuten, zuerst im Quartett, dann im Duett mit Elvin Jones… und die Musik endet – oder gar die Welt?

Quelle: Coltrane Reference, 286-290 & 691-700

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