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Angeregt durch die Diskussion um die besten Schlager und den 75. Geburtstag von Dieter Thomas Heck, habe ich hier mal ein paar Gedanken zum Thema Schlager aufgeschrieben.
Die ersten Schlager, die auch so bezeichnet wurden, tauchten um 1900 auf. Meist waren es populäre Melodien aus Operetten oder Singspielen der Zeit, die sich zu so genannten Gassenhauern oder eben Schlagern entwickelten. Sie wurden schnell über die Schauspiel- und Operettenhäuser Österreichs und Preußens hinaus populär und auch bei allgemeinen Tanzvergnügen gespielt und gesungen. Inhaltlich ging es bei diesen Schlagern fast immer um das Vergnügen, den Spaß an der Freude, das Vergessen des grauen und oft auch leidvollen Alltags.
Eine Besonderheit waren zu jener Zeit die Küchenlieder, die in Moritatenform vom Unglück unehelicher junger Mütter und „gefallener Mädchen“ erzählten und oft mit dem Freitod oder der Verbannung ihrer Protagonistinnen endeten. Dabei wurde das Leben und Unglück dieser jungen Frauen als unausweichlich und schicksalhaft dargestellt.
In den Zwanziger und frühen Dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts wurde der Tonfilm populär und mit ihm zahlreiche leichte und lockere Melodien aus ebensolchen Filmen. Neben einer gewissen Freizügigkeit und Frivolität in den Texten gab es auch ganz klare Nonsenslieder („Wer hat den Käse zum Bahnhof gerollt“, Was macht der Mayer auf dem Himalaya?“), aber auch musikalisch neue Einflüsse durch Jazz und Charleston. Aktuelle gesellschaftliche oder politische Themen wurden aber weiterhin so gut wie völlig ausgeblendet. Man wollte sich amüsieren in den „Goldenen Zwanzigern“. Der Alltag war hart genug.
Nach 1933 und der Machtergreifung durch die Nazis emigrierten viele vor allem jüdische Künstler. Andere erhielten Auftritts- und Spielverbot. Das Anzügliche, Frivole und Witzige verschwand völlig aus der Schlagermusik. Nun ging es tatsächlich nur noch um die heile Welt und dann auch das Durchhalten angesichts eines mörderischen Kriegs, der ja von Deutschland ausging und schließlich auch vor deutschen Städten nicht halt machte. Schlager wie „Davon geht die Welt nicht unter“ oder „Ich weiß es wird einmal ein Wunder geschehen“ wirken vor diesem Hintergrund eigentlich eher makaber. Ein Sonderfall ist „Lili Marleen“, das ja in ganz Europa – auch in Deutschland – populär war. Ein Lied, das den Krieg darstellt, wie er ist. In Deutschland wurde es dann auch 1941 von Goebbels verboten.
In den Schlagern der Jahre nach dem zweiten Weltkrieg lebte der Spaß an der Freud’ weiter. Ein gewisser Eskapismus aber hin und wieder auch Realitätsbezug kam in den Texten zum Tragen (Wir sind die Eingeborenen von Trizonesien).
In den 1950er Jahren gab es dann wieder verstärkt die Suche nach der heilen Welt, Fernweh und Schlagerthemen, die mit dem Alltag des Otto Normalverbrauchers sicher nichts zu tun hatten. Seemannslieder einerseits hatten Konjunktur, andererseits spielte Italien oft in irgendeiner Form eine Rolle in den Schlagern, obwohl die Mehrzahl der Deutschen sich damals einen Urlaub dort noch gar nicht leisten konnte.
Das kam erst Anfang der 1960er Jahre, nachdem das Wirtschaftswunder für Vollbeschäftigung und auch steigende Einkommen gesorgt hatte. Dadurch, dass auch Jugendliche jetzt über eigene Geldmittel (wenn auch noch in bescheidenem Umfang) verfügten, wurden sie als Zielgruppe für die Schlagerindustrie interessant. Die 17cm Schallplatte (auch Single genannt) hatte sich am Markt voll durchgesetzt. Neben den Jukeboxen in Cafés und Kneipen hielten auch immer mehr Musiktruhen oder wenigstens einfache Schallplattenspieler in deutschen Haushalten Einzug.
Schließlich blieb auch der musikalische Einfluss der Besatzungsmächte (vor allem der angloamerikanischen natürlich) nicht ohne Wirkung auf den Schlager in Deutschland. Es gab zunehmend deutsche Versionen internationaler Hits, manchmal sogar von den Originalinterpreten gesungen. Und es gab auch jede Menge Schlager, die sich an angloamerikanischer Pop Musik orientierten. Und dann waren da auch noch die vielen vor allem englischen und amerikanischen Künstler, die meist als Besatzer oder im Gefolge der Besatzungsarmeen ins Land gekommen und geblieben waren. Viele von ihnen merkten schnell, dass mit deutschem Schlager mehr Geld zu verdienen war, als mit Jazz oder Hillbilly.
Schließlich blieb auch die Beatmusik aus England und den USA nicht ohne Wirkung auf den deutschen Schlager. Einige der besten deutschsprachigen Singles der 1960er Jahre sind daran orientiert.
Die Themen des deutschen Schlagers in den 1960er Jahren waren die Liebe und alles was damit zusammenhängt, aber auch nach wie vor Fernweh und Eskapismus. Dazu kamen dann die singenden Sportler als eine eher drollige Randerscheinung des Schlagers, sowie diverse Albernheiten vom „Babysitter Boogie“ bis zum „Häuptling der Indianer“ (beides übrigens deutsche Versionen amerikanischer Titel, die mit dem jeweiligen Original allerdings kaum noch was zu tun haben).
Politik oder soziale Realität kam in den Texten so gut wie nie vor. Und wenn dann auf so peinliche Weise wie bei Freddy Quinn („Wir“, „Eine Handvoll Reis“). Solche Themen überließ man den Liedermachern, die ab Mitte der Sechziger auftauchten, oder dem Chanson und dem Kabarett.
Dass der Schlager immer mehr polarisierte und dass er für Jugendliche ab Mitte oder spätestens ab Ende der 1960er Jahre ziemlich uncool oder out war, lag schlicht daran, dass Beatmusik und später dann Rock in allen seinen Spielarten sowie internationaler (und vor allem angloamerikanischer) Pop die Rolle der identitätsstiftenden, verbindenden Musik eingenommen hatte. Schlager war zunehmend die Musik für die Muttis und Omis (Heintje, Roy Black, Heino u.a.), oder für die eher biederen Teile der Bevölkerung (Friseusen, Tippsen, Schuhverkäuferinnen – das soll keine Diskriminierung bestimmter Berufsgruppen sein) (Bernd Clüver, Jürgen Marcus, Cindy & Bert, Chris Roberts usw.)
Trotzdem – und damit sind wir dann in den 1970er Jahren – gab es immer auch gute, hörenswerte Schlager, die sogar Themen aufgriffen, an denen man im Zuge der gesellschaftlichen Umbrüche und Entwicklungen gar nicht mehr vorbei kam, wenn man nicht nur mit Scheuklappen oder einer rosaroten Brille durch die Gegend lief. Möglicherweise ist es diese Ambivalenz, die dem Schlager in den Siebziger Jahren zu einer letzten Blüte verhalf.
In den 1980er Jahren war es dann die Neue Deutsche Welle (NDW), die in großen Teilen die Rolle des Schlagers übernahm und sogar an Schlager vergangener Jahrzehnte anknüpfte. Natürlich gab es auch NDW Musik, die mit Schlager gar nichts zu tun hatte. Aber die großen NDW Hits der frühen 80er waren doch zum überwiegenden Teil leicht als Schlager einzuordnen. Auch wenn die Inhalte meist um Liebe, Lust und großen Spaß kreisten, gab es doch auch realitätsbezogene oder jedenfalls aktuelle gesellschaftliche Themen aufgreifende Texte. Vom Bruttosozialprodukt über die 99 Luftballons bis zu Karl dem Käfer.
Nachdem die NDW wegen Überschwemmung verebbt war, siechte der Schlager auch nur noch dahin. Volkstümliche Musik nahm seinen Platz zum Teil ein.
In den 1990er Jahren kam dann einerseits eine Schlager Renaissance mit „Verdammt, ich lieb dich“ zum Beispiel, aber auch ein großes Schlager Revival, das den alten Schlager der Siebziger wiederbelebte, teilweise auch mit einem Augenzwinkern.
Heute lebt der Schlager zum Einen in der Parallelwelt einer Helene Fischer, eines Florian Silbereisen oder einer Andrea Berg. Zum Anderen gibt es ihn noch bei diversen Revival Veranstaltungen. Und in der Gay Community hat er nach wie vor einen festen Platz, sei es durch Künstler wie Marianne Rosenberg oder Rosenstolz, sei es in Form des Eurovision Song Contest, der zwar keine reine Schlagerveranstaltung ist, aber doch irgendwie mehr dorthin gehört als in die Kategorie Pop International.
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