Re: 14.03.2010

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wolfgang-doebeling
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KICKS ON 45 & 33

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@ Rossi

Was ich von der Auslagerung der „Singles-Diskussion“ halten soll, weiß ich erst, wenn ich sie gelesen habe. Später dazu also evtl. mehr.

Den Umstand, daß ich mich seinerzeit „für Disco starkgemacht“ habe (für Abba übrigens auch: aktenkundig!), darfst Du nicht überbewerten. Denn natürlich war auch bei Disco nicht alles Gold was glänzte; das allermeiste war ja wirklich gräßlich. Dasselbe läßt sich indes auch für Stile und Szenen sagen, aus deren Ecken Ignoranten ihr stupides „Death to Disco!“ brüllten. Wie immer in solchen Abgrenzungskriegen geleitet von platter Musikideologie. Wobei ich gestehen muß, daß mir eine entschiedene Gegnerschaft generell lieber ist als laues Gefasel („ist nicht so meins“), beweist es doch immerhin, daß da etwas brennt, auch wenn vieles in Sippenhaft genommen wurde, was sehr hörenswert war. Umgekehrt übrigens auch. Es laufen ja heute noch Tumbe und Taube herum, die Punk restlos ablehnen. Damals war es die überwältigende Mehrheit. Wird oft vergessen, weil die (Musik-)Geschichtsschreibung primär von Leuten betrieben wird, die ihre Jugend verklären. Oder, fadenscheiniger noch, von Nachgeborenen, die sich ein Urteil anmaßen, weil sie drei Bücher darüber gelesen haben. Wenn also heute von der großen Punk-Zeit Ende der 70er schwadroniert wird, empfiehlt es sich, schleunigst Reißaus zu nehmen. Oder sich eines probaten Korrektivs zu bedienen: ein Blick in die Charts jener Tage relativiert jedwede Punk-Euphorie gründlich.

Nicht die deutschen, in denen man Punk nicht einmal in Spuren findet. Nicht die US-Charts, wo Ende der 70er Jahre Punk noch terra incognita war, weil außerhalb von NYC und LA schlicht nicht bekannt. Nein, die UK-Charts! Dort, im gelobten Land des Punk, landeten zwar etliche Genre-Größen durchaus Hits, bekamen Airplay, ein paar schafften es gar in die Top10, doch ein Massenphänomen (wie etwa der Beat ’63 bis ’65) war Punk mitnichten. Punk blieb trotz des Rummels um die Pistols und trotz CBS-Marketing-Kampagnen für The Clash eine Subkultur, was immerhin half, subversive Kräfte bis zum Ende der Dekade freizusetzen (Stichwort Crass). Es gab nie einen #1-Hit, dem man das Attribut „Punk“ hätte anheften können. „Rat Trap“ von den Boomtown Rats war der einzige UK-Charttopper, dem man gewisse Punk-Konnotationen unterstellen durfte.

Dagegen war Disco omnipräsent, dröhnte aus den meisten Boutiquen, peinigte auf allen Radiofrequenzen und im TV. Nicht das scharfe Zeug, zu dem man in den schummrigen Clubs der Lower East Side tanzte, sondern populistischer Schlunz der übelsten Sorte, den runterzuwürgen man wohl nur schaffte, wenn man schwul war oder dumm. Am besten beides. Die Bee fockin‘ Gees! Boney M! Village People! Hätte es nicht auch den guten Stoff gegeben (Chic vor allem), wären „Disco sucks“-Bekundungen nicht falsch gewesen.

Es ging also wie stets um Differenzierung bzw. den Mangel daran. Disco war, kannte man das gesamte Spektrum, nicht verachtenswerter als Blues, Rock, Country, Reggae oder Jazz. Denn auch dort herrschte das Leichtgängige und Banale, auch dort mußte man nach hörenswerten Platten suchen. Im übrigen kam der ausgeprägteste Hass auf die gepuderte Falsettgesangsszene nicht von aufrechten Punks, die sich vor Goldkettchen cum Brustbehaarung ekelten, sondern von Apologeten des Hard Rock und Heavy Metal. Von Macho-Typen, deren „Death to Disco!“ vornehmlich bei einschlägigen Konzerten skandiert wurde. Was nicht einer gewissen Ironie entbehrt, waren Goldketten, entblößte Männerbrüste und Eunuchengegröl bei Metal-Bands doch nicht eben Ausnahmeerscheinungen.

Es war schon eine drollige Gemengelage seinerzeit, kurz bevor die Ölkrise alle Teilnehmer des Popmarkts beutelte. Dann kamen die Achtziger, eine Dekade bunter Beliebigkeit.

Ach ja, Deine Frage bzgl. meiner 79er Faves: die gespielten 35 Singles waren selbstverständlich nur die Spitze des Eisbergs. „Good Times“ ist halt brillant, anderes von Chic, Sister Sledge, etc. kommt auf hinteren Plätzen. Eine Liste von Fave Disco-45s könnte ich mal in Angriff nehmen, obwohl ich allenfalls hundert habe, die man mit einigem Recht so bezeichnen könnte, die Hälfte davon auf 12″. Mal sehen, wenn ich Zeit dafür finde. Deiner Vermutung, ich würde nur US-Produktionen schätzen, sei hiermit auch gleich widersprochen. Etliche UK-Acts wie Imagination, Shalamar, etc. brachten dann ja einiges Erfreuliche zustande, auch wenn das nicht mehr unbedingt unter Disco lief. Wogegen ich allergisch war und bin, ist alles, was „Euro“ oder „Italo“ als Bestandteil der Stilbezeichnung führt. Die Unsäglichkeiten, die Leckebusch im „Musikladen“ paradierte, meist aus den Niederlanden. Euro-Beats, Italo-Disco, Deppen-Techno. Fließbandprodukte für geringste Ansprüche. Aber das ist wieder ein anderes Thema.

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