Re: Walter Kempowski

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friedrich

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Ich wollte noch etwas ausführlicher über Walter Kempowkis Im Block schreiben.

Der 19-jährige Walter Kempowski wird im März 1948 in Rostock plötzlich unter dem Vorwurf der Spionage von den Russen verhaftet. Isolation, Verhöre, Hunger, Prügel, Verurteilung zu 25 Haft in Bautzen. Dort wird er mit 400 weiteren Häftlingen, die nichts anderes gemein haben, als dass sie in irgendeiner Weise mit den Sowjets oder der DDR-Obrigkeit in Konflikt geraten sind, Tag und Nacht in einem Saal eingesperrt: Kleine Kriegsverbrecher, Schmuggler, welche, die beim illegalen Grenzübertritt erwischt wurden, tatsächliche oder vermeintliche Spione, abtrünnige Kommunisten, Sozialdemokraten und andere Oppositionelle und später auch Aufständische des 17. Juni. Professoren treffen auf Schuster, Rentner auf Gymnasiasten, Intellektuelle auf Kriminelle, ehemalige KZ-Häftlinge auf ihre damaligen Aufseher. Keine Arbeit oder sonstige Beschäftigung, kein Kontakt nach draußen. Bis auf die Willkür der Aufseher sind sie sich selbst überlassen. Es bildet sich eine Parallelgesellschaft im Kleinen, die ihre eigenen Hierarchien, Beziehungsgeflechte und Gewohnheiten entwickelt.

Im Block schildert Kempowski seine Beobachtungen aus der Haft in kurzen, manchmal nur dreizeiligen, durch Leerzeilen voneinander getrennten Absätzen in lakonischem, fast teilnahmslos wirkendem Ton: Seine Zelle, die dünne Suppe, das tägliche Ausleeren des „Kübels“, Hungerhalluzinationen von Leberwurstbroten, endlose Gedankenschlaufen um die immer gleichen Themen, die immer wieder aufkeimende Hoffnung auf Amnestie, selbstgemachte Schachfiguren aus Brot oder Seife, Tauschhandel Socken gegen Schmalz, ein blutig niedergeschlagener Gefangenenaufstand, Selbstmordversuche, Todesfälle, Schrullen von Mitgefangenen, die sich gegenseitig ihre Lebensgeschichten erzählen, homoerotische Anwandlungen (man hält sich eine „Mieze“), nach Übernahme des Zuchthauses durch die DDR-Vopo Hafterleichterungen wie Briefeschreiben, Empfang von Paketen und Besuch und die Gründung eines Gefangenenchores. Nach 8 Jahren 1956 vorzeitige Haftentlassung.

Ganze menschliche Schicksale werden wie nebenbei in nur ein paar Zeilen abgehandelt, während unmittelbar darauf der Inhalt eines Pakets von draußen bis ins Detail beschrieben wird. Auf Tragisches folgen lustige Anekdoten, auf lächerliche Trivialitäten haarsträubende menschliche Abgründe. Dazwischen: Weiße Flächen. Eine Collage aus Erinnerungsfetzen, die sich erst im Kopf des Lesers zu einem größeren Bild zusammenfügen. Kempowski stellt keine Zusammenhänge her, erklärt nicht, bewertet nicht. Keine Anklage, kein Fazit, nichts. Was davon zu halten ist, bleibt dem Leser selbst überlassen.

Kempowski lässt mit dieser Montagetechnik verschiedene Lesarten zu. Zwar gibt es einen zentralen Handlungsstrang. Dieser setzt sich aber aus einer Vielzahl von Fragmenten zusammen, die sich in Gedanken weiterspinnen und auf verschiedene Art miteinander in Zusammenhang bringen lassen. Im Block lässt sich als eine Art Tagebuch lesen, als ein Stück Zeitgeschichte, als eine Anklage der Sowjet- und DDR-Justiz, man kann das Buch auch als eine Verhaltensstudie von Strafgefangenen in einer Parallelgesellschaft lesen oder als die Beschreibung einer grotesken und absurden Situation nach einem gewaltsamen politischen Umsturz, der alle scheinbar existentiellen Gewissheiten wie den eigenen sozialen Status und jegliches Rechtsempfinden komplett über den Haufen wirft.

Auch der Untertitel von Im Block ist an Lakonie kaum zu überbieten: Ein Haftbericht. Genau das ist es, aber darin verbirgt sich auch noch ganz was anderes.

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“There are legends of people born with the gift of making music so true it can pierce the veil between life and death. Conjuring spirits from the past and the future. This gift can bring healing—but it can also attract demons.”                                                                                                                                          (From the movie Sinners by Ryan Coogler)