Re: ECM Records

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redbeansandrice

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Ich kann mir nicht helfen, für mich ist ECM ein Nischenlabel; sicher ist die Nische dreimal so breit wie sie von bösen Zungen gelegentlich gemacht wird – aber irgendwie bleibt es eine Nische; bei allem schlechten was man über die Jazz Szene der Gegenwart sagen kann – sie ist enorm breit und ein einziges Label kann vermutlich nicht viel mehr als einen Bruchteil davon einfangen. Anders gesagt, vielleicht ist es eine Stärke von ECM, dass sie es geschafft haben sich so zu fokussieren, dass man bei einer ECM Platte schon meistens so ungefähr weiß was man kriegt – anders als vielleicht bei einer ACT oder ENJA Platte… anders gesagt, kaum eine Platte die auf ECM erscheint hätte genausogut auf Tzadik (auch das ein breites Nischenlabel) erscheinen können oder umgekehrt… ist ja völlig ok und ehrenhaft, dass sich ein europäisches Label vor allem auf pummelige, depressive Norweger spezialisiert – und ja, es sind nicht alle Norweger, manche sind optimistisch, andere gertenschlank – aber man darf nicht denken, damit hätte man die Jazz-Szene abgedeckt; und den ECM Produktionen ein gewisses Maß an Homogenität abzusprechen – das überzeugt mich nicht… an dieser Stelle Blue Note aufzuführen halte ich für ziemlich haarsträubend – Lion und Wolff sind lange tot, Blue Note war schon lange nur noch der Name der Jazzabteilung von EMI, und die gibt es jetzt (fast) nicht mehr, hat wenig mit Blue Note zu tun und vor allem überhaupt nichts mit amerikanischen Jazzlabels im allgemeinen!

Dass ECM das wichtigste einzelne Jazz-Label der Gegenwart ist, mit der Aussage kann ich fast leben – aber die Behauptung hier würde, sagen wir, ein zehntel des wichtigsten Jazz der Gegenwart erscheinen finde ich erheblich gewagter… diese Ansicht, dass die „Fackel“ irgendwann um 1970 von Blue Note zu ECM gewandert ist, die hört man gelegentlich, und da kann ich mir nicht helfen, ich glaube der Eindruck kommt im wesentlichen daher, dass ECM eine sehr gute Distribution hat – das ist der Eindruck den man bekommt, wenn man im Moment in die Jazzabteilung eines deutschen CD Ladens geht… wer weiß wie es in zehn Jahren aussieht, wenn die Blue Note Alben verschwunden sind :-) Ich kann mir sehr gut ein Paralleluniversum vorstellen, in dem lotterlotta den Schrank voll Black Saint/Soul Note Alben hat (und die nicht pleite sind) – so hat er wahrscheinlich höchstens eine handvoll genau wie ich… werft mal einen Blick auf den Katalog – ich gehe viele Wetten ein, dass den meisten nicht bewusst ist, was dort alles vor sich hin schlummert… Unter jungen Jazzfans wie mir (Gruß an Satiee) kenn ich niemanden der mehr als ein paar Black Saint/Soul Note Alben hat…

Wir wissen alle, dass sich gutes nicht immer durchsetzt und dass ein gutes Managment nicht immer da sitzt wo die besten Platten gemacht werden. Riesige Quantität und Langlebigkeit haben sicherlich irgendwie mit guter Musik zu tun, ohne geht es nicht, aber ganz so einfach darf man es sich nicht machen… Heut morgen war ich wieder auf der Website von Gerard Terrones (futura/marge) http://futuramarge.free.fr/
ein überschaubarer Katalog und er schafft es offensichtlich nicht, viel davon in-print zu halten; aber die neuen Projekte sprechen mich mehr an als die von ECM (Alexandra Grimal mit Konitz/Peackock/Motian, Doug Hammond, die Albert Ayler Tribute Platte, das Sam Rivers Reissue…); hatology Alben kauf ich auch eher unbesehen als solche auf ECM, ein anderes großes Label mit schöner Aufmachung etc; in Sachen Langlebigkeit vermute ich, dass Delmark ganz vorne liegt (57 Jahre), „nur“ 350 Alben, aber im Moment dokumentiert Bob Koester die aktuelle Chicagoer Szene – und das erscheint mir wichtiger als das was ECM im Moment tun… generell hab ich meine Zweifel, ob die neuen releases wirklich noch sooo viel zum Katalog von ECM hinzufügen, klar sind die zum Teil sehr schön, aber insgesamt find ich schon Eicher wiederholt sichein bißchen – Anfang der 70er Jahre Wichitaito zu produzieren war revolutionär, revolutionär ist unter den aktuellen ECM releases das wenigste; bis zu einem gewissen Grad nehm ich das auf meine Kappe – aber es ist einfach so, dass mich zuletzt zum Beispiel die Michael Wollny Alben auf ACT oder die besten Alben aus Tzadiks Book of Angels Reihe (Astaroth mit Jamie Saft’s Trio!) mehr begeistert haben, als das was ich von ECM gehört hab … ich find nicht, dass es musikalisch zwingende Gründe gibt, dafür, dass ECM so abgehoben ist, während zum Beispiel Gerard Terrones oder Tom Albach (Nimbus West – wer hat eins seiner Tapscott Alben – bei all der Tapscott Begeisterung hier) ihre Alben noch immer selber zur Post bringen… anderes Beispiel – wer dachte aus dem Bauch heraus, dass das Album Cover in meinem Avatar ein ECM Cover ist…? (es ist natürlich ein Enja Cover – auch das ein Label, das zumindest eine Erwähnung verdient hat)

Es gibt diesen Satz von Hoagy Carmichael: „You can do what you like with jazz as long as it doesn’t lose it’s Deep Dark Blue Center“ ich glaub dem können viele zustimmen, ich versteh ihn sicherlich ganz anders als Carmichael ihn verstanden hat… bei ECM hab ich oft das Gefühl [das sich offensichtlich kaum präzisieren lässt], dass sie das Deep Dark Blue Center des Jazz nicht besonders respektieren… damit kann man trotzdem prima Musik machen! aber dass das Erbe von Charlie Parker und Ornette Coleman (und all den anderen) jetzt bei ECM fortlebt, der Gedanke will mir kaum in den Kopf… (wo es jetzt im einzelnen fortlebt, das ist allerdings eine schwierigere Frage…) vielleicht ist das mein Hauptproblem mit der Behauptung ECM sei heute das zentrale Label des Jazz… auch wenn sie den downbeat critics poll gewinnen – das seh ich ja auch und das kann ich irgendwie verstehen…

um nochmal ein paar mehr Labels zu nennen… Label Bleu waren für mich in vieler Hinsicht die besseren ECM, auch eine starke corporate identity, auch diese europäisch-folkloristischen Elemente… aber die Wärme der durchschnittlichen Label Bleu Produktion erreichen bei ECM die wenigsten Alben, und zum Beispiel Louis Sclavis war da für meine Begriffe besser aufgehoben als bei ECM; Pi Recordings sind auch spezialisiert und nicht besonders groß, aber das ist mal ein Label wo mich fast jedes Album interessiert; von 482 Music hatte ich bis vor ein paar Wochen noch nie gehört – ich hab mit deren Alben zur Zeit mehr Spass als mit denen von ECM … Clean Feed, die Liste liesse sich noch um einiges fortsetzen, da ich den Jazz der Gegenwart nur am Rande verfolge, übersehe ich bestimmt viel…

um nochmal auf die Sache mit Licht und Schatten einzugehen: wenn In Praise of Dreams nicht unter Schatten fällt, dann will ich nicht wissen, Largo, wie für dich die finstere Nacht klingt; für mich ist das Kenny G mit anderen Vorzeichen – kein repräsentatives ECM Album, nur mein Argument, dass die Qualität schon schwankt…

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