Re: Traditional, minimalistic and psychedelic tunes – tugboats faves

Startseite Foren Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat Das Vinyl-Forum LP Faves Traditional, minimalistic and psychedelic tunes – tugboats faves Re: Traditional, minimalistic and psychedelic tunes – tugboats faves

#7056175  | PERMALINK

tugboat-captain

Registriert seit: 20.03.2008

Beiträge: 2,825

Jack Rose – Kensington Blues
Label: VHF
Release: 30. August 2005
Format: LP
Wertung: * * * * ½

„All songs selected are 1st takes“ (Jack Rose)

Vertretene Musiker:
Jack Rose (6/12 string guitar)

Tracklist:
1. Kensington Blues
2. Cross The North Folk
3. Cathedral Et Chartes
4. Rappahanock River Rag (for William Moore)
5. Sunflower River Blues
6. Now That I’m a Full Grown Man II
7. Flirtin‘ With The Undertaker
8. Calais To Dover

Es kommt wohl dem Gefühl gleich, mit einem Brecheisen eine fest verriegelte Falltür aufzubrechen. Unsicher und gleichzeitig erwartungsfreudig blickt man nach unten ins schwarzverhangene Dunkel, ohne zu wissen was sich dahinter verbirgt. Übertragen auf den Musikzirkus öffnen sich ganze Welten, schaut man auf die vielen Kinder John Faheys. Damit meine ich nicht die tatsächliche Verwandtschaft des im Jahre 2001 verstorbenen Amerikaners, sondern alle die, die sich von seinem Schaffen haben offenkundig inspirieren lassen. Traditionellem Ragtime und Delta Blues nacheifernde Fingerpicker. Psychedelische Klangschaffende, frei von melodischen Zwängen. Künstler, die diese beiden Elemente miteinander vereinen. Sogenannte Avant-Rock-Bands wie zum Beispiel Sonic Youth. Melancholische Singer und Songwriter mit versierter akustischer Gitarrenbegleitung. Atmosphärische Ambient- und energetische Drone-Musikalisten. Und genau wie ihr Heroe, treten auch die allermeisten Inspirierten weiterhin im Dunkeln. Denn das was sie musikalisch zutage bringen, war und ist für die breitere Öffentlichkeit ein kleines Nischenprodukt. Im schlimmsten Fall unter dem horriblen Sammelbegriff Instrumentalmusik (, die nicht Jazz ist) zusammengefasst.

Man schlägt sich also irgendwie durch als Instrumentalmusiker, so wie es Fahey zu Beginn der 80er tun musste. Verarmt, vergessen – und doch mit dem Drang weitere Songschöpfungen auf Tonträger zu bannen. Damals war es ihm auf Grund seiner finanziellen Situation nur im Homerecording-Verfahren möglich (man höre sein vielfach unterschätztes Album „Let Go“ von 1984). Was seiner Fähigkeit zu faszinieren keinen Abbruch getan hat. Letztlich wurde er vielleicht unter diesen Bedingungen seiner eigenen Maxime, dem American Primitivism, am ehesten gerecht.
Es bedeutet für mich also immer wieder einen großen Überraschungsfaktor, welche Masse an Künstlern und Bands aus diversen Löchern kriechen, die Fahey als ihren geistigen Vater nennen. Gleichzeitig aber sind dessen Platten nur mit Mühe und manchmal auch Not zu ergattern. Und die Hoffnung, dass sich ein vernünftiges Label den vergessenen Aufnahmen annimmt, will und will einfach nicht eintreten. Man vergnüge sich also mit einem seiner Nachfolger, um dem Tag X gut unterhalten entgegenzustreben. Einer der besten und auch eigenständigsten ist Jack Rose.
Während Fahey, der seine ersten Tracks 1959 veröffentlichte, erst Ende der Achtziger und Anfang der Neunziger alle Songstrukturen flöten ließ und seine durchgängig experimentellen Jahre begannen, war es bei Rose genau umgekehrt. Mitglied der Gruppe Pelt zu sein, mit der Rose 1995 zum ersten Mal auf der Bildfläche erschien, hieß verzerrte, dröhnende und langgezogene Klanggebilde erschaffen, basierend im entferntesten Sinne auf amerikanischem Mountain-Folk und Südstaaten-Blues, mit einem entsprechend altmodischen wie uramerikanischem Instrumentarium. Erst mit dem Beginn dieses Jahrtausends wurde offenbar welch großartiger Gitarrist hinter Rose steckte, der als Teil von Pelt nie wirklich als Einzelperson in Erscheinung trat, die Band aber mit seiner Wandlung hin zum tragenden Minimalismus wohl am meisten beeinflusste.

Roses erstes Soloalbum war gezeichnet durch eine unbeirrbare Konsequenz, die sich darin zeigte, dass er alle Experimente von Pelt in den Wind schoss und Ragtime, Bluegrass und Delta Blues der 20er Jahre spielte, mit seinen eigenen Kompositionen. Nicht umsonst erschuf Rose das Pseudonym Dr. Ragtime, das er jüngst wieder auf seinem 2008er-Album „Dr. Ragtime & Pals“ verwendete, einer bewussten Rückkehr zu seiner Anfangszeit als Soloartist. Auf den Folgealben zu seinem Debüt „Red Horse With Mule“ stach dann aber in kleinen Teilen immer wieder das durch, was erst mit „Kensington Blues“ die volle Entfaltung fand. Eine veränderte Herangehensweise an diese Traditionen amerikanischer Musik, die auch Fahey (und ein Artverwandter wie Robbie Basho noch mal mehr) erst Mitte Sechziger Jahren vollends und erstmals durchgängig auf die Spitze trieb. Beeinflusst durch indische und indianische Mystikthematiken in Musik und Geschichte, ergab sich ein völlig neues Klangbild. Nicht falsch verstehen: Damit sind keine verzwirbelten Verzauberungsgesänge gemeint, wo Menschen mit Masken um ein Feuer tanzen und spontan Eingeworfenes langsam ein passendes Klangbild ergibt. Von scheinenden Experten wird diese Herangehensweise damals wie heute eher der Avantgarde bzw. der zeitgenössischen Musik zugerechnet. Wahrscheinlich ist hier auch der Grund dafür zu finden, dass die Berührungsängste immer noch groß sind und Künstler wie Rose nur in kleinen Kreisen Fuß fassen können. Ein Fehler, wie ich finde, und deswegen ist es mir auch ein dieser Stelle ein großes Anliegen die Materie näher zu beleuchten.

„Cross The North Folk“ lässt sich Zeit. Jede einzelne Saite der 12-string-guitar wird von oben nach unten mit schnellen Hieben angeschlagen. Ein Schnaufen aus dem Hintergrund offenbart, dass der Musiker ebenfalls anwesend ist und dass das Kommende Mühe kosten wird. Weniger die Mühe, die dazu dienlich ist die Gitarre zu bedienen, sondern mehr das was aus der Hingabe erwächst, die dem Hörer in den nächsten Minuten offenbar wird. Aus dem Wall an akustischen Schlägen bildet sich eine rhythmisch klar abgestecktes Fingerpicking in Moll. Folk und Blues dienen als Grundlage, aber eben nur als Grundlage. Über Minuten hält sich die rhythmische Vorgabe, wird dann aber langsamer, dann schneller, noch schneller und verändert sich grundlegend – mehrmals. Ein brodelndes, dunkles, schwer zu stoppendes Feuer. Dies alles geschieht in einem reinen Fluss, die Übergänge sind praktisch nicht wahrnehmbar. Wenn ich mich selbst auf diese Veränderungen hin überprüfe, dann fehlt mir der Bezug zum Anfang. Was mich wiederum sehr glücklich macht.
Ein Journalist nannte Roses und letztlich damit auch Faheys Schaffen einmal etwas unbedarft acoustic trance. Das mag zwar in gewisser Weise stimmen, dennoch ist mir das zu kurz gedacht und sagt nichts über die Traditionen aus, die der Musik zugrunde liegen und die in jeder Sekunde deutlich vernehmbar sind. Auch sind damit die subtilen Veränderungen, die spurlos über den Hörer einbrechen außen vor gelassen. Acoustic trance suggeriert ein monoton andauerndes Etwas, was weit entfernt steht von der Feingeistigkeit des „Kensington Blues“.
Melodien, im Sinne von einprägsamen Erinnerungen gibt es nur selten. Jeder, der sich „Cross The North Folk“ und andere seiner Kompositionen zu Gemüte geführt hat, wird sich an Tonlage und Grundstruktur erinnern können und in der Lage sein den Track von anderen Tracks zu unterscheiden. Doch ist Roses Musik nicht auf einzelne Melodien ausgelegt. Manches Mal mag man dem Gefühl unterliegen, dass er dem nahe sei, doch schrammt er in seinem minimalistischen Fluss immer wieder daran vorbei. Und das ist u.a. die Kunst, die ich bei Rose so zu schätzen weiß und die es manch anderem Hörer mitunter schwer macht ihm Folge zu leisten: Dass man diesen Halt geboten bekommt, der doch nicht ganz griffig ist. Dass man ein Stück weit von sich selbst geben und auch für kurz aufgeben muss, um dieser Musik volle Konzentration und eben Hingabe entgegen zu bringen. „Cross The North Folk“ ist vordergründig ein ewig andauernder und sich filigran transformierender Rhythmus, ist Selbstvergessenheit, ist unmittelbare Introspektion ohne Gesang. Alles Weitere, wie weit man diesem epischen und doch simplen Songs folgen will, bestimmt der Hörer selbst. Als bloßer Betrachter von außen, der nicht bereit ist sich einzuwühlen und fallen zu lassen, wird man mit dieser Art von Musik nicht glücklich.

Und dann gibt es die Sekunden in denen dieser Fluss plötzlich zu Ende ist, die Gitarre nochmals wie bereits zu Anfang mehrmals disharmonisch angeschlagen und man selbst auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt wird. Rose hält für kurz inne und spielt im Anschluss eine sehr kurze, schlichte, nur auf einzelnen Töne bedachte Melodie. Ein unglaublich bewegender Moment, dieser prägnante, eingängige Augenblick von Reduktion, so als sei der Musiker aus einem traumlosen Schlaf erwacht, um uns daraufhin die Quintessenz seiner, im Fluss der Saitensprünge entstandenen Gedanken zu präsentieren.
Dieses Stilmittel der abschließenden Umschwungs auf den kleinsten aller Nenner verwendet Rose gleich noch einmal. Der anschließende Track „Cathredal Et Chartes“, der nebenbei gesagt mein liebster Rose-Track überhaupt ist, gibt sich im Gegensatz zum dunklen Monolithen „Cross The North Folk“ bittersüß und weitaus versöhnlicher, ohne die disharmonischen Anfangs- und Endsequenzen. Besonders ins Auge fällt das Gefälle zwischen hellen und dunklen Tönen, die Rose (nochmals auf der 12-string-guitar) wie zuvor in einer Art hypnotischem Mantra in unterschiedlichen Rhythmen gleichzeitig anschlägt. Auch versucht er zwischendurch etwas freier zu agieren. Die melodische Essenz entfaltet sich hier nicht nur zum Schluss, sondern mehrmals während des Songverlaufs. Obwohl ähnlich strukturiert, erscheint sie vollmundiger, breiter arrangiert und gehört zu den liebevollsten Momenten, die Rose je komponiert hat.

Ich möchte an dieser Stelle meinen Text langsam zum Ende führen. Es geht mir weniger darum, jeden Songs bis zum Erbrechen zu würdigen (keine Sorge, das wird noch kommen) und damit meine oben stehende Wertung zu rechtfertigen, sondern erschien mir „Kensington Blues“ in seiner intensiven und konsequenten Spielart ein Paradebeispiel zu sein, um das Wesen des American Primitivism, dass John Fahey sozusagen ins Leben gerufen hat, näher zu beleuchten. Das sah wohl auch Jack Rose selbst so, der sich auf diesem Album mit einer tiefgehenden Version des „Sunflower River Blues“, die sehr am dem Original gespielt wird, für die Inspiration und Geisteshaltung bedankt. Um somit eine Herangehensweise zu würdigen, die nicht darauf ausgelegt ist technisch zu brillieren (mit Primitivism ist in gewisser Weise „ungelernt“ gemeint), sondern die freiheitlichen Aspekte des Gitarrenspiels, der Musik in den Vordergrund zu stellen und was daraus entwachsen kann. Mit „Kensington Blues“ veröffentlicht Jack Rose nicht nur sein bestes, am dichtesten gestricktes Album, sondern schafft es auch, bar jeder Logik, durch die Verneidung vor Fahey sich zu einem der eigenständigsten, versiertesten und schlichtweg interessantesten Künstler der Gegenwart zu mausern.

--

detours elsewhere