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Gut, du verstrittst einen ideologisch zementierten, apodiktischen Standpunkt, der jedewede Diskussion verunmöglicht. So gesehen argumentierst du aus einer ähnlich extremen, kompromisslosen Ecke wie eine Reihe erzkonservativer Schollenromantiker, nur eben aus der umgekehrten Perspektive. Die Auslistung der Dixie-Chicks waren ein Extremfall, der nicht vom Publikumsgeschmack diktiert wurde, sondern von rechtsorientierten amerikanischen Radioketten wie „Clear Channel“ verschuldet wurde, die aber nicht nur Country, sondern auch alle anderen Musikformate bedienen, wie Adult Contemporary, Hot AC, Top 40, Rhythmic Contemporary, Urban, Classic Rock, Active Rock, Alternative, Jazz, Sports oder Christian Contemporary und mit entschiedenen Bush-Kritikern in anderen Sparten ähnlich ungnädig verfuhren wie mit den Chicks. Der Beliebtheit der Chicks beim Publikum tat das opportunistsche Verhalten von Teilen der Radiowirtschaft aber keinen Abbruch, bei großen Genre-Netzwerken wie CMT waren die Videos der Chicks nach wie vor gern gesehen.
Ich gehe mal davon aus, dass du von der aktuellen Country-Szene wenig Ahnung hast und noch weniger von der Musik, die gerade die Hitparaden beherrscht. Nach einer stilistisch sehr vielfältigen und in Sachen Songwriting überaus tiefschürfenden musikalischen Epoche während der 90er- und späten 80er-Jahre dominiert zur Zeit durch und durch unpolitischer Country-Rock, insbesondere aussagefreie, augenzwinkernde Party-Songs stürmen die Charts. Eric Church’s „Drink in My Hand“, Jake Owen’s „Southern Barefoot Blue Jean Night“ Luke Bryan’s „I Don’t Want this Night to End“, Toby Keith‘ „Red Solo Cup“ oder Brad Paisley’s „Camouflage“ üben eine große Anziehungskraft aufs erwachsene Radiopublikum jenseits der 18 aus, ohne bestimmte politische Grundstimmungen zu transportieren. Seit moderne Rockmusik im Radio kaum noch eine Rolle spielt verabschiedet sich das erwachsene Rockpublikum immer mehr in Richtung Country, was auch stilistisch stark zu Buche schlägt (vergl. Jason Aldean, Brantley Gilbert, Eli Young Band, Miranda Lambert, David Nail, Uncle Kracker). Es ist ja schon mehr als symptomatisch wenn das „Classic-Rock-„Format mit 4.5% Marktanteil mehr Hörer anzieht als alle modernen Rockformate zusammengerechnet.
Und im Top-40-Format, wo Künstler wie Derulo, Gym Class Heroes, Flo Rida, B.O.B. oder Chris Brown auf engstem Raum rotieren, ranken sich die oft sehr infantilen Lyrics großteils um Teeniefantasien, Parties und pubertäre Entwicklungserscheinungen. Bei Rap und Hip-Hop („Rhythmic Contemporary“, „Urban Contemporary“) stehen Gang- und Cliquenkontroversen, aber auch deftige sexuelle Anspielungen im Vordergrund.
Mit deinen Anschauungen würdest du selbst bei überzeugten amerikanischen Country-Verweigeren nur Kopfschütteln ernten. Muss gute Rockmusik grundsätzlich linksrevolutionäre Positionen einnehmen, um vor deinen Angesichte Gnade zu finden? Was glaubst du, wieviele Leute sich in dieser Zeit für so was begeistern könnten?
tolomoquinkolomEine im Grunde rassische Musik (Niggaz und alle anderen Volksgruppen mit Migrationshintergrund werden ja ausgeschlossen) kann dies auch schlecht für sich in Anspruch nehmen.
Mit Verlaub, das ist absoluter Unsinn. Schon mal was von Darius Rucker gehört? Oder von Charley Pride? Beide sind erfolgreiche, charterprobte afroamerikanische Country-Sänger, als Geheimtip hätte ich noch Cleve Francis anzubieten.
Und weißt du, dass das erwachsene Urban-Format, das qualitativ hochwertige, Rap-freie R&B-Musik spielt, trotz bester terrestrischer Breitenabdeckung zu 99% schwarze Hörer erreicht und nahezu ausschließlich schwarze Interpreten spielt? Ist R&B deswegen rassistisch?
Du wirst einwenden, dass R&B-Stars auch im weißen AC-Popradio laufen. Das ist richtig, aber dort laufen auch Taylor Swift, Lee Ann Womack, Lonestar, Faith Hill, Lady Antebellum, LeAnn Rimes, Kenny Chesney, Blake Shelton oder Brad Paisley!
Schwarzen Hip-Hop-Stars gelingen gelegentlich Crossovers ins jugendliche Top-40-Format, obwohl der Top-40-Hip-Pop etwas anders klingt als der reinrassige Hip-Hop, den man in den ethnischen Formaten „Urban Contemporary“ und „Rhythmic Contemporary“ zu hören bekommt.
Und wo um Himmels willen sind heute die schwarzen Rocksänger? Richtig, Fehlanzeige!
tolomoquinkolomEs stellt sich zudem die Frage, welche Funktion diese um sich selbst kreisende Szene eigentlich im neuen, im globalen Jahrtausend noch haben kann.
Nun, für die Marktführerschaft im Radio reicht’s locker, außerdem verkaufen sich Country-Alben besser als Top-40-Pop. Und von den zehn meistgespielten Interpreten im US-Radio waren 2008 sechs Country-Acts. Und was meinst du mit „um sich selbst kreisend“? Es ist wohl war, dass die Country-Industrie in Nasheville konzentriert ist, aber in den Studios dieser Musikmetropole werden auch Rock, Pop, Blues, R&B und Jazz produziert. Und von den hervorragenden Produktionsbedingungen im Bereich der Country Music kann sich jeder selbst überzeugen, die Session-Gitarristen aus Nashville geben heute sogar die Qualitätsstandards innerhalb der Branche vor.
Ich darf dir aber versichern, dass die stilistisch stark aufgefächerte Rockmusik bei den Plattenverkäufen die Nase gegenüber allen anderen Musikrichtungen weit vorn hat. Mit einem Drittel aller verkauften Alben zeigt sich, dass Rockliebhaber begeisterte Sammler sind, obwohl moderne Rockmusik anders als in den 70er- und 80er-Jahren kein Massengenre mehr ist.
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