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Anonym
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Sonic und Mick, im Prinzip volle Zustimmung bzw. kein grundsätzlicher Widerspruchsbedarf. Selbstverständlich ist Country keine wesensgemäß scheinheilige, verlogene und reaktionäre Musik – und die Einwände gegen den Wilco-Interview-Einstieg kann ich schon nachvollziehen, wenn ich den auch wieder nicht so unbotmäßig und daneben finde wie vielleicht andere.
Mich interessiert etwas Grundsätzliches: Woher es kommt, dass viele Leute in Deutschland traditionell fast instinktiv dazu neigen, Country politisch verdächtig zu finden (womöglich geht es ja auch dem Wilco-Interviewer so).
Aber um unzulässige Verallgemeinerungen zu vermeiden, beginne ich mal nicht bei „den Deutschen“, sondern bei mir: All die US-Flaggen, Cowboyhüte, Weißkopfseeadler-Gürtelschnallen und, sobald in einer Bühnenansage von den „United States“ die Rede war, auch all die hochgereckten Fäuste, die ich mal bei einem Charlie-Daniels-Konzert im Publikum gesehen habe, haben mich – bei aller Freude, die ich an der Musik hatte – damals schwer irritiert (das war übrigens lange vor Daniels’ Bush-Hinwendung, irgendwann Ende der 80er, Anfang der 90er Jahre). Da drückte sich in Kleidungsstil und Gebaren ein derart offensives, plakatives, stürmisches, fast wütendes Bekenntnis zur Nation, ihrer Kultur und ihren Werten aus, wie ich es mir in Deutschland einfach bis heute nicht vorstellen könnte (zumindest nicht in Kreisen, mit denen ich etwas zu tun haben möchte).
Als in der alten BRD Sozialisierter, dem das schreiend Nationale erstmal aus historischen Gründen unheimlich ist, konnte ich damit nur schwer umgehen: Das war etwas, das ich aus der Folk- oder Pop-Musik einfach nicht gewohnt war und auch nicht von Blues, Soul oder Jazz. Der politische Folk hat doch eine universellere Wertebasis, der Pop zielt immer auf einen internationalen Appeal, die „schwarzen“ Musikgenres, so konkret sie aus spezifisch amerikanischen Lebensumständen entstanden sein mögen, erlauben leichter die Transzendierung, Übersetzung, Übernahme, Aneignung (weshalb es früh eine große britische Bluesbewegung gab und eine breite Soulszene in Deutschland gibt etc.) – während Country mir, als ich dieses Charlie-Daniels-Konzert erlebte, über die Musik eher einen abgegrenzten Raum zu definieren schien von Leuten, die einen gemeinsamen, vom andersartigen „Außen“ oder „Rest der Welt“ relativ klar unterscheidbaren Lebens- und Erlebnis-Horizont entweder tatsächlich teilten oder zumindest symbolisch beschworen.
Und ich frage mich nun, ob ich da auf ein Einzelphänomen gestoßen bin oder sich da eben doch etwas Country-Typisches ausgedrückt hat.
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