Re: 04.01.2009

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wolfgang-doebeling
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KICKS ON 45 & 33

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SonnyWolfgang, das war mir bereits klar und genauso möchte ich das auch für mich unterschreiben. Daher auch (noch einmal) meine Frage: Wäre es nicht wesentlich spannender, bei der Nennung Deiner Faves eines bestimmten Jahres sowohl die Rangliste des (unmittelbar miterlebten) Jahres als auch die des Jahres in der heute aktuellen Form zu nennen?

Ganz bestimmt wäre es das, nur würde es auch erheblich mehr Zeit kosten. Die ich nicht habe. Erst neulich wurde mir das schmerzlich bewußt, als ich im Thread zu den besten LPs des Jahres 1979 anmerkte, daß mir beim Vergleich meiner Jahresend-Top50 von damals mit dem heutigen Stand zwar nicht gewaltige, jedoch signifikante Unterschiede aufgefallen waren, und ein paar Leser gleich besagte Top50s zu sehen wünschten. Eine Stunde nur hätte ich da investieren müssen, magst Du einwenden, aber erstens kann ich die schon kaum erübrigen, und zweitens hätte die Aktion unweigerlich Wünsche nach vergleichbaren Gegenüberstellungen anderer Jahre nach sich gezogen.

@ mojoclub

Deine Ausführungen in Ehren, aber einiges kann ich nicht nachvollziehen. Warum zum Beispiel die Single von The See See „nicht so glatt“ sein soll wie jene von Cottonmouth Rocks oder Polly Scattergood, will mir nicht einleuchten. Auch Deine allgemeinen Ausführungen, wonach das letzte Jahr dadurch gekennzeichnet sei, daß „Interpreten auf der Suche nach neuen Sounds“ waren, kann ich nur insofern bestätigen, daß es zu allen Zeiten Künstler gibt, die das tun, sowie andere, die das nicht interessiert. Eine Unterscheidung übrigens, die nichts mit der Qualität der Musik zu tun hat. „Innovation“ ist nichts per se Gutes oder Schlechtes. Ferner: Deine „Schwerpunkte bei Singer/Songwritern, Folk und Alternative Country“ als eine „andere Richtung als das gestern gehörte“ zu bezeichnen, ergibt keinen Sinn. Denn das impliziert ja, die gespielten Singles kämen aus einer Richtung. Schließlich: es ging in der Sendung überhaupt nicht um Musikstile, auch nicht um Künstler, sondern einzig und allein um 45s. Die mir liebsten im vergangenen Jahr. Sonst nichts.

@ dougsahm

Die letzten Sätze gehen auch an Deine Adresse. Darüberhinaus: Ja, die Juwelen in den Bereichen Soul und Hiphop sind in den letzten Jahren rarer geworden. Erykah Badus mählicher Niedergang ist dafür ein trauriges Indiz. Erklären läßt sich das nur, wenn man den Prozess kultureller Industrialisierung (wie er sich Woche für Woche etwa in „Billboard“ darstellt) in Verbindung bringt mit daraus resultierenden Gleichschaltungstendenzen (global statt regional, etc.) sowie den Folgeerscheinungen von Erfolg (Zynismus, Dekadenz, etc.). Hinzu kommen zyklisch auftretende Momente und der schlichte Umstand, daß die Blütezeit jedes Musikstils begrenzt ist. Und so welken Hiphop und das, was blöderweise R & B genannt wird, seit Jahren schon vor sich hin. Nicht unbedingt kommerziell, aber inspirierend ist da nur noch selten etwas. Green Day machten mal in Anzeigen geltend, mehr Punk-Platten verkauft zu haben als jede andere Punk-Band. Gut möglich, daß das auch auf Kanye West und Hiphop zutrifft.
All das bedeutet freilich nicht, daß es nicht auch heute noch schwarze Perlen gibt, die der Entdeckung harren. Auf Jean Graes neuer LP, die schwächer ist als der Vorgänger, finden sich noch coole Cuts. Tweets „Ooops!“, nicht mehr ganz neu, aber 2008 von Hudson Mohawke veredelt (Du hast es gehört?), haut mich um in Sachen Flow und dramaturgischer Perfektion. Wenn Dich die Entwicklung der schwarzen Popmusik auf der Markt- sowie der Bedeutungsebene interessiert, empfehle ich die Lektüre von „The Source“. Dort reportiert und diskutiert die In-Crowd. Durchaus selbstkritisch. Vor einem Jahr ungefähr war in einem Essay nachzulesen (beeindruckend belegt), wie der schlichte Materialismus nach und nach alles Leben aus der Szene gesogen hat und nur noch Larven übrigließ, die in obszön teuren Clips herumhopsen, zur immer selben Choreographie. Ein Thema, das zu vertiefen sich durchaus lohnen würde. Im Philosophicum. Dort könnte atom dann auch seine These einer genaueren Prüfung unterziehen: Rap is still an art (?).
Deine letzte Frage betrifft die 7″-Kultur beiderseits des Atlantik und ist leicht zu beantworten, ganz ohne soziokulturellen Hintergrund. In a nutshell: der UK-Markt ist integriert, übersichtlich, schnell, ja sprunghaft. Was in Manchester en vogue ist, ist es sofort auch in London oder Birmingham, in Glasgow und Bristol. Das liegt an der vergleichsweise geringen Größe der britischen Inseln, vor allem aber an der Gleichzeitigkeit und Gründlichkeit medialer Durchdringung. Das UK verfügt über eine vielfältige und lebendige Musikpresse mit einer Gesamtauflage von mehr als zwei Millionen (wenig im Vergleich zu den 70ern, sehr viel im Vergleich zu den USA). In der Tagespresse ist Pop stets ein Thema, und das Radio ist auch national empfangbar (was ein DJ auf Radio 1 spielt, wird überall wahrgenommen). Entsprechend ist ein Tonträger, der selbst schnell ist und unmittelbar wirkt, für Fans wie für (junge) Bands ein ideales Vehikel. Kurze Vorlaufzeit, leicht zu finanzieren, promptes Feedback. Hinzu kommt die jahrzehntelange Tradition des Formats, dessen Aura im UK nie verblasste. Trotz Umsatzeinbrüchen im Massenmarkt, also bei Leuten, die sich für Musik nur am Rande interessieren und das bißchen Musik, das sie brauchen, einkaufen wie andere Produkte des beiläufigen Bedarfs: nach dem Preis-Leistungs-Verhältnis und nach bequemer Verfügbarkeit. In den USA sieht das völlig anders aus. Dort wurden 45s nicht zuletzt auch für Jukebox-Aufsteller produziert, noch im Jahre 1968 wurden bis zu 30% der Auflage eines Hits direkt in diesen Vertrieb gegeben. Damals standen noch etliche Millionen dieser Nickel & Dime-Gräber in gastronomischen Betrieben jeder Couleur. Als das Jukebox-Geschäft ab Ende der 60er wegzubrechen begann, sanken auch die Singles-Auflagen rapide (wobei die musikalische Entwicklung hin zu längeren, „ernsthafteren“ Werken, mithin zu LPs, ebenfalls ein maßgeblicher Faktor war, doch gab es diese Entwickung auch im UK, ohne daß die Singles-Sales so dramatisch abgenommen hätten – thanks to Glam Rock, Punk, Reggae, etc.). Eine weitere Differenz betrifft die Wertigkeit von Singles ab jener Zeit des relativen Niedergangs: im UK wurden sie aufgewertet, durch Pic-Sleeves und non-LP-Tracks als A- oder B-Seiten, in den Staaten steckten sie meist schmucklos in Label-Sleeves oder nicht einmal das, und die Plattenfirmen achteten darauf, daß im Zuge der Komplettverwertung möglichst alle Tracks mehrfach verfügbar waren. Der wichtigste Unterschied ist freilich die schiere Größe des US-Markts im Verhältnis zur Ballung im UK. So zerrissen und regionalisiert ist dieser riesige Markt (auch medial zerfasert: Radiostationen senden regional, eine wache überregionale Musikpresse gibt es kaum), daß es keine nationalen Vertriebe gibt, wenige regionale, viele lokale. Es ist einfach viel zu aufwendig und überdies teuer, etwa eine Auflage von 5000 7″Singles landesweit zu vertreiben. Weshalb man in vielen US-Plattenläden zwar eine Auswahl von 7″Singles findet, jedoch fast nur von regionalen/lokalen Acts und Labels. 45s, die in Chicago in etlichen Läden stehen, kriegt man in Detroit, Boston oder Philadelphia nie zu sehen. Die betreffenden Bands spielen meist auch nur in ihrem Heimatstaat, später touren sie vielleicht auch in angrenzenden Staaten, ganz mutige touren eine Küste entlang oder wagen den Sprung von einer Küste zur anderen, das Amerika dazwischen auslassend. Kurzum, die Ökonomie des Musikbetriebs ist in den USA eine fundamental andere, fragmentiertere als im UK. Und die wenigen großen Labels, die den Apparat und die nötigen Mittel haben, landesweit zu operieren, halten sich für gewöhnlich nicht mit Peanuts wie 7″Singles auf. Das ändert sich nur langsam wie sich alles in Amerika nur langsam ändern kann. Immerhin zeigen die Majors in den letzten zwei, drei Jahren überhaupt wieder Interesse am 7″-Format und man findet sie auch verstärkt im Angebot größerer regionaler Vertriebe, von Alicia Keys oder Rihanna bis zu den Killers. Nicht weil 7″Singles nun viel mehr abwerfen würden als vor 15 Jahren, sondern weil man auf die paar tausend Dollar, die sich mit einem 7″-Release verdienen lassen, nicht mehr verzichten mag/kann. Man ist bescheidener geworden.

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