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MikkoI
Andererseits kann ich mir aber nicht vorstellen, dass jemand, der viel über Musik liest, reflektiert und einen hohen Anspruch an sich selbst und andere pflegt, nicht auch von Gefühlen überwältigt wird, wenn sie/er Musik hört. Teilweise werden diese Gefühle sogar erst durch die intensive Beschäftigung mit der Musik möglich. Wenn man sich für etwas nicht interessiert, kann man auch kein Verhältnis dazu entwickeln.Das hat mit der Eingangsfragestellung des Threads jetzt relativ wenig zu tun, aber ich möchte doch mal die Vermutung äußern, dass die Leute, die eine Weiterentwicklung verweigern bzw. sich so ungern von lieb gewonnenen Altlasten trennen, eher zur Kategorie Eins gehören.
Dieser angeleuchtete Satz ist mir wichtig und meine Antwort ist, jein.
Denn wenn man z.B. seit Jugend Redding’s „Sittin on the dock of a bay“ immer im Zusammenhang mit schönen Erlebnissen hört, und das relativ oft, hat man durchaus ein tiefes Verhältnis zu diesem Stück auf einer emotionalen Ebene, das man immer wieder abrufen kann.
Wenn man aber (und da fangen diejenigen an, die sich intensiv mit Musik beschäftigen), sich die Geschichte, Wirkung des Songs ansieht, wird man zusätzlich die Dramatik, Trauer und den großen Verlust verstehen, den dieser Song damals thematisierte, ohne das es aus den Lyrics zu lesen wäre.
Fängst mann dann an, sich mit der Wirkung und Einfluß Redding’s auf das Plattenlabel Stax auseinanderzusetzen und in dem Umfeld zu recherchieren, wird es recht interessant: Dann lernt man erst mal die Feinheiten des Künstlers kennen: warum Reddings Stimme auf Dock of the bay so anders ist, was er für die Zukunft geplant hat, und warum das alles eigentlich so traurig ist.
Oder mal ein Beispiel aus Nes‘ Umfeld, was auch die unterschiedliche intensive Auseinandersetzung mit Musik bringen kann:
Keith Jarretts „Köln Concert“, das sie bestimmt schon häufig gehört und auch immer wieder erwähnt hat ist sicherlich toll. Steht auch in vielen Haushalten und wird unterschiedlich oft gehört.
Außer Frage steht, daß Nes mit der Doppell-lp einige Erinnerungen verbindet, und auf Nachfrage hat sie auch mal geschrieben, daß sie noch mehr von Jarrett kennt. Was, weiß ich nun nicht.
Wenn man sich nun mit Jarrett’s Werk (in seinen unterschiedlichen Facetten und Instrumenten) und den unterschiedlichen Besetzungen seiner Bands auseinandersetzt, behaupte ich mal, daß sich das Verhältnis zum Köln Concert mit der Zeit relativieren wird.
Kaum ein Jazzfan, den ich kenne, würde es z.B. lieber mögen, als die „Blue Note“ Trio Aufnahmen.
Wenn sich Nes nun nicht nur mit den unterschiedlichen Jarrett Aufnahmen beschäftigt, sondern anfängt sich mit Piano Aufnahmen des Jazz im allgemeinen zu beschäftigen, dann wird das das Verhältnis zu Jarrett auch wieder relativieren.
Wer jetzt NEIN schreit, fürchte ich mal, hat die Erfahrung noch nicht gemacht.
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“It's much harder to be a liberal than a conservative. Why? Because it is easier to give someone the finger than a helping hand.” — Mike Royko