Re: Die 10 besten Alben der 60er

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redbeansandrice

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um mal mit dem einfachsten anzufangen: die Etta Jones Aufnahme ist aus meiner Sicht ganz eindeutig Jazz, das als frühen R&B aufzufassen erscheint mir absurd (oft ist die Unterscheidung schwieriger), offensichtlich jemand, der sich seine Billie Holiday Aufnahmen gründlich angehört hat, ganz tolles Stück, das mir neu war, schönes Tenorsaxophonsolo von Big Nick Nicholas (dem – um einen Kreis zu schließen, der vielleicht keiner ist – John Coltrane Jahre später seine Komposition Big Nick gewidmet hat); die Ruth Brown Aufnahme ist ein bißchen schwieriger, da offensichtlich etwas retro und vielleicht mit einer kleinen Spur slickness, die aus dem Soul kommen mag – aber auch hier würd ich im Zweifel für Jazz plädieren…

Lucky Millinder ist ein schwierigerer Fall, seine frühen Aufnahmen sind ganz eindeutig Big Band Swing, die späteren dagegen früher R&B (ohne jetzt alle Tracks kritisch gehört zu haben – aber man vergleiche einfach mal Little John Special und den Chew Tobacco Rag)… [ganz allgemein sei gesagt, dass diese „Complete Jazz Series“ compilations auf deezer eine tolle Ressource für diese Art von Musik sind…]

so, und dann sind da generellere Fragen… es fällt sehr stark auf, wie viele der großen Jazzer der zweiten Hälfte der 50er Jahre (auch viele, die um 1945 Bebop gespielt haben), die erste Hälfte der 50er Jahre in R&B Bands verbracht haben, teilweise selber welche geleitet haben, John Coltrane, Johnny Griffin, Gene Ammons, Hank Mobley… Wynonie Harris hat auf manchen frühen Sessions Elmo Hope, Percy Heath, Philly Joe Jones und Griffin in seiner Begleitband… eine gängige Geschichte von dem was da passiert ist, geht etwa so: den Big Band Swing wollte keiner mehr hören, den neuen Jazz der Ostküste (Bebop) aber auch keiner (denn die Jazzfans interessierten sich in jenen Jahren für den West Coast Jazz) – und so taten sich die alten und jungen Jazzer der Ostküste zusammen und nahmen in großem Stil R&B, der eine Fortentwicklung des Big Band Swing war auf…(grad von der Art Big Band Swing, wie Millinder sie gespielt hatte); Mitte der 50er war das mit dem West Coast Jazz dann vom Tisch, und die Ostküstenbebopper konnten wieder Bebop spielen, der aber dann R&B beeinflusst war und Hard Bop genannt wurde; mal abgesehen davon, dass ich die Geschichte, dass all diese Leute über Jahre Musik machten, die ihnen nicht passte, etwas sonderbar finde [die ersten Aufnahmen des charakterstarken Charles Mingus fallen etwa ganz eindeutig in den Grenzbereich, s. Tracks 2 und 3 hier, ist allerdings Westküste] -so scheint mir auch die These, dass sich der frühe R&B teilweise auch aus dem Bebop entwickelt hat ziemlich schlüssig (und klar, es gab auch Blues-Wurzeln, nicht nur Jazz-Wurzeln); The Hucklebuck von Paul Williams ist nicht von ungefähr fast das gleiche wie Now’s The Time von Charlie Parker (und Ornette Coleman behauptet, bei ihnen in Texas sei man sich solcher feinen Unterschiede nicht bewusst gewesen :-) ); und Gene Ammons etwa ging ziemlich direkt von Bebopaufnahmen mit Billy Eckstine zu eigenen Sessions über, die teilweise schwer zu klassifizieren sind, die aber ganz eindeutig Elemente von Bop und R&B in sich haben… so leider keine Zeit das alles besser zu schreiben – im Moment bin ich auch noch zu verwirrt von all dem, was sich zwischen 1948 und 1953 im Osten der USA zugetragen hat…

in diesem Sinne, abgesehen davon, dass ich dir Billie Holoday ans Herz lege, falls noch nicht gehört, hier sind zwei Gene Ammons Compilations, die ich mal zusammengeklickt habe
Early Years
Tenor Battles mit Tom Archia (die letzten vier Tracks sind Archia alleine – da kommt das stilistische Durcheinander auch sehr klar raus)
und exemplarisch zwei spätere Ammons Tracks…
Walkin‘ (1961)
Jungle Strut (1970)

auf organissimo hat übrigens gestern jemand einen Anisteen Allen Thread gestartet – kannte den Namen bis gestern gar nicht…

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