Re: ROLLING STONE Oktober 2008

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nail75

Registriert seit: 16.10.2006

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Ich finde das letzte Heft sehr gelungen. Der RAF-Artikel von Birgit Fuß beispielsweise gefiel mir vor allem durch den Ernst des Tons, der maßvollen und würdevollen Behandlung dieser tragischen Episode der deutschen Geschichte.

Gefallen hat mir auch, dass The Big Lebowski gewürdigt wurde. Sicherlich ist das kein großer bedeutsamer Film, aber wenige Filme haben sich so dauerhaft in mein Gedächtnis gebrannt wie dieser Film. Ich kann die Begeisterung für die Absurdität der Handlung und die wahnwitzigen Dialoge gut nachvollziehen. Mein Lieblingszitat aus dem Film: „Wir sind hier nicht in Nam, Walter, hier gibt es Regeln.“

Schön auch der Oasis-Artikel, der die Band viel ungezwungener portraitiert, als ich mir vorgestellt hatte. Dass sie bei aller coolen Arroganz ihre Grenzen erkennen und sich nicht wichtiger nehmen als sie sind, hat mir besonders gefallen.

Der Folk-Artikel von WD gehört jedoch zu seinen schwächeren Arbeiten. Besonders seltsam fand ich, dass er große Schwierigkeiten hatte, die Szene auf einen Nenner zu bringen. Das geht nun offenbar nicht nur ihm so, aber selten habe ich von WD so viele ausweichende Zitate, indirekte Rede und so wenig klare Aussagen gelesen. Die Fragen, um die es geht, sind ja nicht leicht zu beantworten, aber nach meiner Auffassung auch nicht so rätselhaft. Was die Rolle von Boston beispielsweise betrifft, so muss man natürlich die lange Tradition des missionarischen Radikalismus in Massachusetts in Rechnung stellen.

Was den politischen Gehalt der Folkszene betrifft, bleibt der Artikel ebenfalls seltsam konturlos. Die Folk-Bewegung war natürlich politisch und ebenso uramerikanisch. Die Rückbesinnung auf das Versprechen der Unabhängigkeitserklärung, die Kritik an politischen Autoritäten, Kommerz, Wettrüsten, hysterischem Anti-Kommunismus, Geldgier und Rassentrennung, ist relativ zwangsläufig, wenn man sich die politische Lage der frühen 1960er Jahre vergegenwärtigt. Das hat der damalige Korrespondent der Newsweek schon erkannt. Es war ein Angriff auf die Welt der Eltern.

Der Unterschied zu früheren Zeiten bestand darin, dass die meisten älteren Folksänger, wie Woody Guthrie oder Pete Seeger eine starke Nähe zu kommunistischen oder sozialistischen Ideen bspw. Gewerkschaften spürten. Die Künstler der 1960er Jahre wollten hingegen mit solchen traditionellen Formen der Organisation, in der Regel (es gab sicherlich Ausnahmen) weniger zu tun haben. Stattdessen ist die Folk-Bewegung der frühen 1960er eher eine Protestbewegung der intellektuellen, aus der Mittelklasse stammenden Jugend des Nordostens, die sich als Teil der Bürgerrechtsbewegung betrachtete. Man protestierte gegen die Ungerechtigkeit der Welt im Allgemeinen und ganz besonders gegen die Rassentrennung im Süden.

Bob Dylan hat viele Lieder geschrieben, die explizit den Süden anklagen, wie „Oxford Town“ oder „The Lonesome Death Of Hattie Carroll“. Fast schon brutal in seiner Unerbittlichkeit ist Phil Ochs’ „Here’s To The State Of Mississippi“. Dahinter stand natürlich das Heilsversprechen, wie in Bob Dylans „When The Ship Comes In“: Wir werden die Gegner besiegen und auf den Trümmern ihrer zerstörerischen, ungerechten Welt, eine neue, bessere errichten. Das ist vergleichbar dem amerikanischen Heilsversprechen insgesamt und daher so amerikanisch wie Baseball. Der Aufruf richtet sich nicht gegen Amerika, sondern gegen diejenigen, die Amerika verderben. Hatte nicht sogar Eisenhower vor der Macht des military-industrial-complex gewarnt? Was anderes tat Bob Dylan mit „Masters Of War“?

Die Botschaft, so weit man das sagen kann, lautete: „Unsere Eltern zerstören die Welt und wir lehnen uns dagegen auf. Aber jetzt kommt eine neue Zeit, in der es anders sein wird.“ Das Bemerkenswerte ist nun, dass das in Form von Liedern geschah, die uralt waren oder zumindest so klangen, als wären sie schon vor Jahrhunderten geschrieben worden. Die Verbindung von Modernität im Sinne einer offenen, gleichen Gesellschaft mit traditionellen musikalischen Formen des einfachen Volkes ist ja geradezu kennzeichnend für die Folkmusiker. Sie kämpfen für die Rechte des gesamten Volkes über Rassegrenzen hinweg in einer Kunstform, die aus dem Volk kommt, mithin volkstümlich ist. Da die Musik nicht von großen Firmen vermarktet wird, wirkt sie authentisch und ehrlich, direkt und rebellisch.

Bob Dylan ist der Dreh- und Angelpunkt dieser Bewegung, seine Rolle kann man gar nicht hoch genug einschätzen. Ohne ihn würden sich vermutlich viel wenige Leute heute für die Folk-Musik dieser Zeit interessieren und wenn, dann vermutlich besonders für die Künstler die am wenigsten politisch waren. Es war seine Genialität, die der ganzen Bewegung eine Dringlichkeit verlieh, die Menschen aufhorchen ließ – und zwar (langfristig) weit über die Grenzen Amerika hinaus. Er traf – wie kein Zweiter – den Nerv einer Generation, die unzufrieden war mit der Welt, die ihre Eltern geschaffen hatte, aber sich nicht so brillant artikulieren konnten. Seine Ängste vor Gewalt und sinnloser Zerstörung, seine Kritik an Rassismus, seine Furcht vor dem (Atom)-Krieg (das beherrschende Element seiner frühen Lieder) und sein Hass auf Kriegstreiber, sprachen vielen jungen, gebildeten Amerikanern aus der Seele. Natürlich war es nur eine Momentaufnahme, dass Dylan vor schwarzen Landarbeitern in Mississippi und vor Hundertausenden anlässlich von Martin Luther Kings Marsch auf Washington sang, allerdings war das eben der entscheidende Moment.

Aber Dylan spürte, dass es so nicht weitergehen konnte. Er war kein politischer Führer, er wollte kein spokesman of a generation sein – diese Last konnte er nicht tragen. Mit der Ankunft neuartiger Klänge von jenseits des Atlantiks brach die neue Zeit auch musikalisch an. Der Folk hatte sich – innerhalb weniger Jahre – überlebt. Die Zukunft lag woanders. Und ohne Dylan fiel die gesamte Folkbewegung weitgehend in sich zusammen.

Manches davon klingt in dem Artikel irgendwie an, aber insgesamt ist er doch zu schwammig, um wirklich das Phänomen der Folkbewegung wirklich greifbar zu machen.

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Ohne Musik ist alles Leben ein Irrtum.