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@ Herr Rossi
Mir ging es nicht prinzipiell um „Genre-Abgrenzung“. Genre-Durchlässigkeit kann ja u.U. zu ebenso aufregenden Resultaten führen wie Genre-immanente Musiken. Auch „River Deep, Mountain High“ liegt zweifelsohne eine Erweiterung des Genres Soul zugrunde. Aber daß es sich natürlich immer noch um Soul handelt, steht doch außer Frage. Deshalb mein „mutet seltsam an“: war nicht als Kritik an der Fragestellung gedacht. Hör‘ Dir nur mal Tinas brünftige Exaltation im Mittelteil an. Das ist säkularisierter Gospel, reine Ekstase. Gibt’s nicht im Pop.
@ nail75
Du bringst verschiedene Ebenen durcheinander. Mir liegt nicht daran, Hörigkeiten herzustellen. Es geht um das Lernen. Kein Mensch wird mit Verständnis für die Musik von John Coltrane (oder Charlie Feathers oder Dock Boggs oder Harry Partch oder Scott Walker oder James Carr oder…eine Endlosliste) geboren. Ob er solche Musik irgendwann versteht und somit für sich nutzbar machen kann, ob er sein Leben also dadurch bereichern kann oder nicht, das hängt nie vom „Geschmack“ ab, sondern stets von Faktoren wie Neugierde und Hingabe, von (musikalischer) Intelligenz, von der Intensität und der Zeit, die man investiert, davon, ob man für die eine oder andere musikalische Erkenntnis auf anderes (Urlaub, Partys, etc.) gegebenenfalls verzichtet. Kurzum, von den persönlichen Prioritäten. Um Mißverständnissen vorzubeugen: es würde mir nie im Traum einfallen, meine Prioritäten anderen Personen anzudienen. Nicht einmal meinen Kindern. Und so erwarte ich hier auch nicht auf Leute zu treffen, die diese mit mir teilen. Kein Problem. Lächerlich wird es erst dann, wenn man sich frischfröhlichfrei anmaßt, über alles eine Meinung verbreiten zu dürfen, gerne auch in völliger Ahnungslosigkeit, und diese Mischung aus Ignoranz und Arroganz (zwei Eigenschaften, die jede für sich hinnehmbar sind, im Tandem nicht) dann mit dem vielstrapazierten Begriff „Geschmack“ ummäntelt und rechtfertigt. Geschmack? Bloody hell! Nicht einmal die Frage, ob man Kartoffelsalat lieber mit Essig und Öl oder mit Mayonnaise ißt, ist eine Geschmacksfrage. Sondern abhängig davon, wo man geboren wurde, wo die Eltern herkonmen, welcher Schicht man angehört, wie reisefreudig man ist, welche Bekanntschaften man macht, etc. Die Geschmackspapillen auf der Zunge spielen dabei eine untergeordnete Rolle, sie sind vielfach konditioniert. Oder besser: was unser Hirn aus der sinnlichen Erfahrung macht, wie wir diese bewerten, ist die Summe von unzähligen Erfahrungen. Beim Verzehr von Salat. Um wieviel mehr bei Musik? Nicht nur deshalb war ich stets dankbar, wenn ich jemanden kennenlernen durfte, der mir in diesem oder jenem voraus war, aufgrund eines Altersvorsprungs oder aufgrund anderer Informations- und Erfahrungsvorsprünge. Ich habe immer die Nähe zu Leuten gesucht, von denen ich lernen konnte. Auch und gerade in Sachen Musik. Wovon ich mittlerweile einiges verstehe. Vor allem ist mir klar, daß es da draußen noch unheimlich viel Musik gibt, die ich noch nicht kenne bzw. durchschaue. Zum Glück.
Wahrscheinlich habe ich deshalb keine Zeit für Leute, die sich nur beiläufig dafür interessieren, keinen Schimmer haben, sich aber dennoch eine Meinung anmaßen und damit überall hausieren gehen. „Legitim“, um Deine Frage aufzugreifen, ist mithin natürlich jede Art der Musikaneignung, von der Hobby-Hörerei bis zum methodischen Studium, solange man ein Modikum an Realismus aufbringt, den eigenen Erkenntnisstand betreffend.
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