Startseite › Foren › Die Tonträger: Aktuell und Antiquariat › Das Vinyl-Forum › LP Faves › Tinas Faves › Re: Tinas Faves
The Smiths – Hatful of Hollow
(Rough Trade 1984)
The Smiths und ich waren eine Liebe mit großem Umweg. Ursprünglich war es Noel Gallagher, der in mir den ersten Impuls ausgelöst hatte, ein Album der Band zu kaufen: Als mir mit zwölf Jahren auf dem Flohmarkt stöbernd ein abgegriffenes Exemplar von „The Queen Is Dead“ in die Hände fiel und ich mich eines seiner rühmenden Kommentare entsann, schienen mir zwei Mark dort sehr gut investiert. Zuhause aufgelegt, konnte ich dem Album allerdings noch nicht viel abgewinnen, und so fristete es anschließend ein fast zehnjähriges Dasein zwischen alten John Denver- und Chris De Burgh-Platten der Eltern. Viele popgeprägte Jahre und fruchtlose mündliche Smiths-Anpreisungen später fiel mir dann „You Are The Quarry“ in die Hände und gefiel, und für mein „The Queen Is Dead“-Flohmarkt-Exemplar war endlich die Zeit gekommen.
Gleich der nächste Schritt in den Smiths-Kosmos hieß „Hatful Of Hollow“ und schlug ein wie seit Oasis’ „(What’s The Story) Morning Glory“ zehn Jahre zuvor nichts mehr eingeschlagen hatte. Alsowelterschütternd. Die beißende Wucht der Musik in Verbindung mit diesen umwerfenden Melodien war etwas, das ich auf diese Art noch niemals gehört hatte. Eine faszinierende Verbindung, knurrend und umarmend zugleich.
In den folgenden Monaten wurde gehört, geschaut und gelesen, was Zeit und Finanzen hergaben, an Morrissey als Gesamtkunstwerk einen gigantischen Narren gefressen, und die Karriere der Smiths 7inch für 7inch nachträglich durchlebt. Am Ende stand die verblüffende Frage, wie es möglich ist, dass diese Band in den vier Jahren ihres Bestehens, unter respektablen vier Studioalben, zwei Compilations und siebzehn Singles, tatsächlich keine einzige schwache Minute Musik auf Vinyl gepresst hatte. Eine aufregende Erkenntnis. Die Präferenzen unter den regulären Studioalben variierten immer mal wieder, doch die frühen Smiths der „Hatful Of Hollow“-Jahre blieben für mich immer die erstaunlichsten und spannendsten.
„’Hatful Of Hollow‘ is a golden hour of The Smiths.“ (Adrian Thrills, NME, 1984)
Als „Hatful Of Hollow“ am 12. November 1984 im UK erschien, hatten die Smiths die ersten Höhepunkte ihrer noch jungen Karriere bereits hinter sich. Genau ein Jahr zuvor waren sie mit „This Charming Man“ bei Top Of The Pops aufgetreten – persönlich und öffentlich einschneidende drei Minuten, wie seither von unzähligen Musikern (darunter auch Noel Gallagher) und Journalisten berichtet. Die folgenden Singles „Heaven Knows I’m Miserable Now“ und „William It Was Really Nothing“ waren aus kommerzieller Sicht sogar noch gewichtiger gewesen, und zu Erscheinen des selbstbetitelten Debütalbums im Februar 1984 hatten sie es bereits zu einer großen und hingebungsvollen Fanbase sowie größter journalistischer Aufmerksamkeit gebracht. Was allerdings viele Fans und Kritiker an dem Erstwerk bedauerten, war John Porters etwas trübe und flache Produktion, welche die nervöse Dringlichkeit der berüchtigten frühen Live-Gigs und der verehrten Debütsingle „Hand In Glove“ nicht ideal eingefangen hatte. Ein gutes halbes Jahr später veröffentlicht, bestand „Hatful Of Hollow“ nun aus vier Singles, die nicht auf dem Debut gewesen waren, zwei B-Sides und einer ganzen Reihe bisher unveröffentlichter Tracks – darunter eine ganze Reihe alternativer Versionen von Songs von „The Smiths“, die fast ausnahmslos die erstveröffentlichten Takes noch ein kleines Stück übertrafen. Infolgedessen wurde die Zusammenstellung im Oktober 1984 – ungeachtet der unvermeidbaren Ausverkauf-Unkenrufe angesichts der Zweitverwendung von Material – von vielen vormals enttäuschten Fans als das „wahre“ Debütalbum empfangen und gefeiert.
Der Großteil der „Hatful Of Hollow“-Tracks stammt von vier BBC -Sessions, die die Band zwischen Mai und September 1983 für die John Peel- und David Jensen-Shows auf Radio 1 aufnahm. In diesen frühen Aufnahmen klingt die Band so ungeschliffen, inbrünstig und unmittelbar wie nie wieder und sie sind ein wesentlicher Schlüssel zum Verstehen der Ausgangspunkte und Triebkräfte der wohl wichtigsten Band der Eighties.
„ Those sessions almost caught the very heart of what we did – there was something positively messy about them, which was very positive. People are so nervous and desperate when they do those sessions, so it seems to bring the best out of them.“ (Morrissey)
Die meisten der Songs wurden zwar später erneut in prominenteren Versionen aufgenommen, aber niemals mehr ganz so frisch eingefangen wie hier. „Reel Around The Fountain“ und „You’ve Got Everything Now“ klingen in diesen Versionen eine ganze Stufe roher und dynamischer als in den späteren, was Morrisseys frühe lyrische Lieblingsgefilde noch eine wesentliche Spur wichtiger und emphatischer erscheinen lässt: Übermannende Sehnsucht, ambivalente Sexualität, Kindesmissbrauch (“How you took a child and you made him old”), Anti-Arbeitsethos („I’ve never had a job because I never wanted one“) sowie das Kitchen-Sink Drama “A Taste Of Honey” und William Wylers „The Collector“. Bei “Reel Around The Fountain” macht eine halbe Note Hebung und eine leichte Beschleunigung des Tempos den kleinen aber feinen Unterschied, bei „You’ve Got Everything Now“ sind es Joyces energischere Drums und Morrisseys schrilles Falsetto zum Schluss, die dem Track eine Bestimmtheit geben, die die spätere Version nicht ganz erreicht.
Auch die schroffe „Hand In Glove“-B-Seite „Handsome Devil“ – wegen angeblichem pädophilen Coming-Out im Zusammenhang mit „Reel Around The Fountain“ und „The Hand That Rocks The Cradle“ vom Debütalbum Gegenstand großer Boulevard-Aufregung – ist hier in einer dynamischeren, leicht überlegenen Version zu hören. Die für David Jensen aufgenommene Version von „Still Ill“ besitzt exklusiv ein Harmonica-Intro und -Outro von Johnny Marr, das man nicht mehr missen möchte, wenn man es einmal gehört hat.
„After our first album came out, we realised that some of the versions of the songs on the album weren’t as good as the way we did them on the John Peel session. Because of this we put out a compilation called ‚Hatful Of Hollow‘, which featured those John Peel sessions, and as a result they pretty much became the definitive versions of the songs we recorded for John.“ (Johnny Marr)
Einzig die auf „Hatful Of Hollow“ kompilierte „This Charming Man“-Version verliert ein wenig gegenüber dem dynamischeren Single-Take, passt aber in dieser kantigeren Form wunderbar in den Kontext der Compilation. Marrs umwerfendes Gitarrenmuster trägt Morrissey tongue-in-cheek über entjungfernde hillsides und geschmeidige passenger seats; die Kombination der bejahrten Wörter gruesome und handsome – reine Poesie!
Auf „This Night Has Opened My Eyes“, dem einzigen für BBC aufgenommenen Song, der in keiner anderen Form als dieser jemals offiziell erscheinen sollte, bündelt Morrissey seine an Obsession grenzende Begeisterung für „A Taste of Honey“, indem er mehr oder weniger „the entire play into words“ (Morrissey) setzt. Getragen von Rourkes schwermütigem Bass und Joyces phlegmatisch verschleppten Drum-Patterns zählt der Track zu den Highlights auf „Hatful Of Hollow“ und unterstreicht erneut die frühe Brillianz der Band auf diesen von Dale Griffin (Mott the Hoople) und Roger Pusey produzierten Aufnahmen.
Als Album-Opener wurde die dritte Smiths-Single „William, It Was Really Nothing“ gewählt, ein 2 Minuten und 12 Sekunden kurzes Pop-Juwel erster Smiths-Güte. Marrs jangling guitars – seit „This Charming Man“ Markenzeichen – schlingen sich wunderbar leichtfüßig durch den Track, die Lyrics sind offenbar zu gleichen Teilen vom Kitchen-Sink Drama (hier die 63er-Verfilmung von „Billy Liar“) wie von „This Town Ain’t Big Enough For The Both Of Us“ der Sparks beeinflusst. Ein kleines Meisterwerk, oder auch: „Amazing to say what you have to say in two-and-a-half minutes”, wie Johnny Marr später feststellte. Zu den musikalisch geschmeidigeren Momenten des Albums zählt außerdem ein weiterer Track mit Anti-Arbeitsethos-Thema: „Heaven Knows I’m Miserable Now“ sollte der größte Charts-Erfolg der Smiths bleiben (#10 im UK) und nimmt im Songtitel Bezug auf die von Morrissey nahezu vergötterte Sandie Shaw („Heaven Knows I’m Missing Him Now“).
Yes, we may be hidden by rags/But we’ve something they’ll never have
Eingeschlossen wurde außerdem die fulminante Debüt-Single „Hand In Glove“, ebenfalls in seiner frühesten, in diesem Fall aber eigenproduzierten Single-Version. Über Andy Rourkes treibender Bass-Linie singt Morrissey aufgekratzt von einer unkonventionellen Liebschaft, die sich um ihre äußere Wirkung nicht schert und sich vom Rest der Welt abgrenzt („and if the people stare then the people stare“). Auf welche Weise unkonventionell, erfährt man nicht, Identität und Geschlecht bleiben, wie so oft bei Morrissey, verschwommen. Umso mehr potentiellen Identitätsstoff bietet der Track, getragen durch ein hochtrabendes Gefühl, eine angespannte Mischung aus Triumph und Verhängnis. Das Ende der Liaison ist unausweichlich, trotzdem ist die Hingabe eine grenzenlose und Morrissey verkündet trotzig “I stake my claim, I’ll fight to the last breath/If they dare touch a hair on your head I’ll fight to the last breath”. Eine Kampfansage in vier Versen, laut, grimmig und schelmisch. Und sich hier in der frühen Version wunderbar zwischen den BBC-Session-Tracks eingliedernd.
Als B-Seiten sind noch das von einem frühen Del Shannon-Track inspirierte akustische „Please Please Please Let Me Get What I Want“ mit herzerwärmenden Morrissey-Vocals und einer einmaligen, sehnsüchtigen Mandolinen-Coda, sowie das grimmige „Girl Afraid“ von der 12“-Version von „Heaven Knows I’m Miserable Now“ vertreten.
Obwohl in einer Spanne von 18 Monaten an verschiedenen Orten und in unterschiedlichen Kontexten aufgenommen, wirkt das Album erstaunlicherweise an keiner Stelle unangenehm zusammengezwungen. Die Reihenfolge ist ausgefallen, aber nicht erratisch; blutsverwandt sind die 16 Tracks ohnehin. Textlich spannt es so viele konkrete kulturelle Referenzpunkte wie keine andere Smiths-LP und bleibt trotzdem (oder gerade deswegen) so sonderbar und eigen wie keine andere. Was The Smiths im Langspiel-Format betrifft, ist es nicht verwegen, in „Hatful Of Hollow“ das faszinierendste und essenzielle Dokument zu sehen – mit einem Marr, der musikalisch frisch erblüht, einem textenden Morrissey at his best and bleakest („Accept Yourself“, „How Soon Is Now?“, Still Ill“,„Handsome Devil“!) und einem einmalig energetischen Bandsound. Die LP bleibt natürlich das was sie schon immer war, eine Compilation, aber als solche eine außerordentlich tolle – und die erste Smiths-LP, die in mir wahre Fanleidenschaft entfachte. So what difference does it make!
--
Sir, I'm going to have to ask you to exit the donut!