Re: Joanna Newsom – Ys

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go1
Gang of One

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SantanderWenn ich lese, dass sie auf dem älteren Album noch schlimmer „gesungen“ hat, wird einiges klarer: die „Verbesserung“ kommt wohl daher, dass die Produzenten hier auf dem neuen Album Schlimmeres zu verhindern versucht haben, bestrebt waren, die gröbsten Scheußlichkeiten zu glätten. An einer Stelle wird das besonders deutlich: Gegen Ende von „Only Skin“, wo ihr „Gesang“ in die Höhe strebt, musste man sie schlicht wegblenden und andere Stimmen drüberlegen …

Das glaube ich nicht. Steve Albini hat Gesang und Harfe aufgenommen; bei ihm kann man sich darauf verlassen, dass nichts geglättet wird. Der Fortschritt, den ich höre, wird einfach durch vermehrte Praxis zustandegekommen sein – sie singt mittlerweile eben länger als zur Zeit ihrer ersten Aufnahmen.
In „Only Skin“ wird ihre Stimme z.T. gedoppelt, und einmal brummt in der tiefen Lage ihr Freund Bill Callahan mit – dem Höhepunkt zu wird’s halt üppiger. (Hoch gesungen hat sie vorher schon und „andere Stimmen“ gibt es da nicht, meine ich.)

SantanderBeim Hören des Albums kam mir durchgängig der Gedanke, dass man, um diese Musik, z. B. die an sich sehr schönen Kompositionen „Emily“ oder “Sawdust and Diamonds“, zu retten, einmal wirklich Ton- und Gesangsspur vollständig voneinander trennen müsste. Das Ganze könnte dann eingesungen werden von einer anderen, professionelleren Interpretin, die weiß, wie man komplexe Innerlichkeiten gesanglich zum Ausdruck bringt, ohne dass es penetrant und peinlich wird.

Auf mich wirkt der Gesang in keiner Weise „peinlich“ und nicht im schlechten Sinne „penetrant“. Ich höre ihn tatsächlich als ausdrucksvoll, und auch seine Rauheiten, Schärfen, Unebenheiten tragen für mich dazu bei. Ich weiß nicht, ob ich das verständlich machen kann. Ich kann ja umgekehrt auch nur vermuten, was Du hier als peinlich empfinden könntest. Newsoms Gesang entspricht wohl nicht Deinen Idealvorstellungen, aber solche Vorstellungen können auch hinderlich sein.

Beispiel „Sawdust & Diamonds“: Da hört man zehn Minuten lang nur Harfe und Stimme und nach meiner Wahrnehmung hält Newsom durchgehend die Spannung aufrecht (ich halte das für eine Leistung). Rhythmus- und Melodiegefühl kann man ihr meiner Meinung nach nicht absprechen. Sie leiert auch nicht, ist zu Nuancen fähig. Es taugt wohl kaum als gepflegte Hintergrundmusik; Newsoms Stimme sticht hervor (sie ist im guten Sinne „penetrant“ und scharfkantig). Sie klingt mehrmals schrill, ein bißchen rauh; sie klingt „roh“ und „on the edge“ (schärfer als beispielsweise in „Only Skin“). Für mich ist das aufregend und passt zum Song. Innerer Aufruhr, Ungewissheit, Sich-nicht-unterkriegen-Lassen, Leidenschaft, Begehren – um solche Dinge geht’s. Schönklang und Gemütlichkeit wären da ganz unpassend. Ausdrucksmäßig, emotional, kommt für mich was rüber; ich halte Spiel und Vortrag für beseelt. Es klingt für mich spontan, menschlich, fehlerhaft – einfach natürlich und „unproduziert“. Das steht dem Song, meine ich.
Ob Newsom „pitch perfect“ singt, ist für mich kein Kriterium, nicht notwendigerweise. „Sauber“ und „rein“ soll zwar die Wäsche sein, aber nicht der Gesang. Ich will keine Gesangsschulfachklasseabsolventinnen hören. „Technisch sauber“ zu singen oder zu spielen, ist weder gut noch schlecht; es kommt auf den Kontext an. Für mich zählt, ob ich das Resultat als stimmig, die Elemente als passend empfinde. Und Ecken, Kanten, Eigenheiten klingen oft besser als herkömmlicher Wohlklang, jedenfalls in meinen Ohren. Es spielt für mich keine Rolle, was der Gesangslehrer (Gitarrenlehrer, Schlagzeuglehrer…) dazu sagen würde.
Außerdem sind wir hier im Singer/Songwriter-Genre. Von Singer/Songwritern verlange ich nicht, dass sie Opern singen können; sie sollen einfach ihre eigenen Lieder überzeugend rüberbringen, das ist alles. Ihr Song, ihre Stimme – die darf ruhig unkonventionell sein, das kann ich akzeptieren. Das einzige, was ich Newsom „nachsehen“ musste, ist das gelegentliche Quietschen ihrer Stimme, und das hat mittlerweile seinen eigenen Charme für mich. Ich fand ihren Gesang ziemlich gewöhnungsbedürftig, ja, aber im Kontext dieses Albums störe ich mich jetzt nicht mehr daran. Die Musik ist schön und die Stimme garantiert, dass es nicht gemütlich und gefällig oder bloß hübsch werden kann. Das finde ich gut. Joanna Newsom wird keine Lieblingssängerin von mir werden, aber der Gesang auf Ys bleibt für mich im grünen oder gelben Bereich. Er ist für mich auf seine eigene (spröde, kantige) Art reizvoll.

Na ja, ich mag ja auch Gitarrenfeedback…

Santander J. Wigger versteigt sich im „Spiegel“… zu der Äußerung: „Sprechen wir es gelassen aus: Ein Leben ohne diese Platte ist keins“ ( http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,455238,00.html ) – ja geht’s noch?

Ich kann das verstehen.

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To Hell with Poverty