Re: Joanna Newsom – Ys

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santander

Registriert seit: 22.09.2005

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So, habe das Album jetzt endlich vollständig gehört und komme zu einem interessanten Ergebnis: Mein Eingangspost, in dem ich geschrieben hatte, dass die Stücke „was haben“ und nur der „Gesang“ stört, hat sich voll und ganz bestätigt. Eine derartige Ambivalenz habe ich selten erlebt: streckenweise wunderschöne, interessante, intelligente und sehr abwechslungsreiche Kompositionen und Melodien, aber kaum erträgliche Interpretation durch die „Sängerin“. Ich denke, dass man das in diesem Fall wirklich trennen muss.

Ich hätte mich gar nicht in die Diskussionen hier eingemischt, wenn ich nicht aufgrund der Beschreibungen angenommen hätte, dass diese Musik für mich was wäre. Videos und andere Aufnahmen bestätigten das: Fantasievolle Melodieläufe waren da zu hören, nur der „Gesang“ schreckte eher ab.

Blieb also die Hoffnung, dass sich das Album tatsächlich ganz anders anhören würde als die Aufnahmen, die ich vorher gehört hatte. Irgendwas musste ja dran sein, wenn das Album im neuen RS-Heft bei den Kritikern auf Platz 1 gelandet ist.

Aber die Zwiespältigkeit – sehr schöne Musik auf der einen, scheußlicher „Gesang“ auf der anderen Seite – hat sich jetzt beim Hören des Albums bestätigt, ja noch gesteigert: Joanna Newsom singt tatsächlich nicht besser als in den Aufnahmen, die ich vorher gehört hatte. Die Musik jedoch – gemeint ist die Komposition, die Idee – ist in der Tat sehr schön, schöner als ich beim ersten Hören vermutet hätte, etwas langatmig, zuweilen versponnen und etwas wunderlich, sehr abwechslungsreich (an einer Stelle sogar mit leicht ostasiatischen Einflüssen, in „Only Skin“, etwa ab 6:00), fantasiereich und intelligent.

Aber diese Frau kann einfach nicht singen. Dass das Album so hoch bewertet wurde, kann ich mir nur so erklären, dass sich die Hörer von den einzelnen Kompositionen, Melodien und Arrangements haben korrumpieren lassen. Sie sehen dieser Frau ihren gesanglichen Dilettantismus nach, weil sie sich in die Musik verliebt haben. Nur so kann ich die euphorischen Bewertungen mancher Kritiker nachvolllziehen J. Wigger versteigt sich im „Spiegel“ ja gar zu der Äußerung: „Sprechen wir es gelassen aus: Ein Leben ohne diese Platte ist keins“ ( http://www.spiegel.de/kultur/musik/0,1518,455238,00.html ) – ja geht’s noch?

Wenn ich lese, dass sie auf dem älteren Album noch schlimmer „gesungen“ hat, wird einiges klarer: die „Verbesserung“ kommt wohl daher, dass die Produzenten hier auf dem neuen Album Schlimmeres zu verhindern versucht haben, bestrebt waren, die gröbsten Scheußlichkeiten zu glätten. An einer Stelle wird das besonders deutlich: Gegen Ende von „Only Skin“, wo ihr „Gesang“ in die Höhe strebt, musste man sie schlicht wegblenden und andere Stimmen drüberlegen (Vielen Dank!) – ansonsten wäre es wohl vollends unerträglich geworden. Aber auch so ist es schon schlimm genug. Sehr ärgerlich, wenn dann noch künstlich was reininterpretiert wird. Man erzähle mir nicht, sie singe mit „Absicht“ so, da gäbe es noch irgendwelche „tiefere Bedeutungen“. Nein, sie kann gar nicht anders, und es steckt überhaupt nichts dahinter (soviel zum Thema „Prätention“, „Anspruch“ usw.) Hier ist also Entzauberung angesagt.

„Ys“ klingt in meinen Ohren so, als sei es bei einem Karaoke-Wettbewerb mitgeschnitten worden, ja, es ist Karaoke: wunderbare Musik im Background, aber krächzende Laiensänger auf der Bühne, die zwar spürbar ihr „Bestes“ geben, durchaus mit Engagement und Hingabe bei der Sache sind, aber eben nicht anders können als am Ende das Ganze zu verunstalten.

Beim Hören des Albums kam mir durchgängig der Gedanke, dass man, um diese Musik, z. B. die an sich sehr schönen Kompositionen „Emily“ oder “Sawdust and Diamonds“, zu retten, einmal wirklich Ton- und Gesangsspur vollständig voneinander trennen müsste. Das Ganze könnte dann eingesungen werden von einer anderen, professionelleren Interpretin, die weiß, wie man komplexe Innerlichkeiten gesanglich zum Ausdruck bringt, ohne dass es penetrant und peinlich wird.

Die Bewertung ihres Harfespiels übrigens ist keineswegs leicht, denn man hört auf der Platte ja kaum ihr Solo-Spiel, das wird in der Produktion völlig zurückgenommen. Aber hier wollen wir einmal nicht so streng sein und gehen davon aus, dass sie wenigstens das beherrscht ;)

Mein Fazit also: extrem ambivalent, daher auch ärgerlich. Für die Musik allein, Ideen, Komposition (d. h. eben auch für die Melodieläufe, die von ihr gesungen werden) und die Arrangements würde ich gar vier Sterne vergeben, für den Gesang jedoch gar keinen oder allenfalls einen Stern. Eine Bewertung ist so kaum möglich, es sei denn, man nimmt den Durchschnitt, das wären dann **1/2 – schade.

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