Re: Joanna Newsom – Ys

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Komm heim!

Die kalifornische Harfenistin Joanna Newsom und ihr neues Album „Ys“

Jens Balzer

Am Morgen liegt ein seltsames Licht auf den Hügeln, ein Meteorit brennt kalt, wie ein Zeichen: „Komm heim!“ Ein Knecht hat vergessen, das Gatter zu schließen; die Tiere auf der Weide erheben schnüffelnd die Häupter: Ursala, die Bärin, und ihr Geliebter, der Affe, tasten sich zögernd in die freie Welt. Voller Hoffnung, aber auch voller Angst vor dem Ungewissen – sie sind entkommen, aber wovon sollen sie leben? Ursala muss tanzen gehen, sagt der Affe bald; „tanze, mein Liebling“ ruft er ihr zu, „so lange, bis wir den letzten Hügel erreichen“; sie muss tanzen und tanzen, bis sie zu Staub zerfällt, zum harten Rhythmus der Harfe, die ihre Geschichte erzählt; zum schmeichelnden, drohenden, liebkosenden Gesang der märchenerzählenden Harfenspielerin.

Joanna Newsom heißt die Märchenerzählerin, die uns diese Geschichte vorharft; mit süßer, bedrohlicher, herzwärmend schrill schmeichelnder Stimme singt sie Lieder von Vergänglichkeit, Verfall und Verrat, aber auch von unerschütterlicher, unsterblicher Liebe. Im – an erstaunlichen Entdeckungen und irren Erscheinungen nicht eben armen – Folk-Revival der letzten Jahre ist Newsom die allererstaunlichste Entdeckung gewesen. Und die allerirrste Erscheinung sowieso: ein feenhaftes Mädchen mit unfassbar schönen Spitzohren, das bei seinen Konzerten barfuß, mit wallenden Gewändern, schwerelos um eine gewaltige Harfe schwebt; am Beginn ihrer Karriere kaum zwanzig Jahre alt, aber so geschichtsbewusst und – bei aller scheinbaren Rückwärtsgewandtheit ihres Sounds – so kühn artifiziell musizierend wie kaum ein anderer ihrer Kollegen.

Morgen erscheint Joanna Newsom neues, zweites Album „Ys“; es enthält fünf epische Moritaten, keine unter einer Viertelstunde Dauer: von tragisch freiheitssuchenden Tieren; dem kalten Licht eines Metoriten, das in die Kindheit weist (ihre Schwester Emily Newsom singt den Refrain); von lauten, schmutzigen, alles verwüstenden Maschinen; von der Schönheit und Macht der Natur und dem Reichtum der Welt, den man aber nur erkennt, wenn man versteht, die Sprache der Allegorien zu lesen.

„Das Harfenspiel wollte ich lernen, seit ich fünf Jahre alt war“, sagt Joanna Newsom im Gespräch, „in dem Dorf in Kalifornien, in dem ich lebte, gab es eine Harfenlehrerin, ich habe so lange bei meinen Eltern gebettelt, bis sie mir die Stunden bei ihr bezahlten.“ Zuerst übte sie auf einer kleinen keltischen Harfe; als ihre Arme länger wurden, wechselte sie zu größeren Instrumenten. Das neue Album hat sie nun auf einer zweieinhalb Meter hohen „Lyon & Healy style 11“-Pedalharfe eingespielt. „Pedalharfen sind wirklich praktisch“, sagt Newsom, „gerade zum Improvisieren: weil man mit ihnen unmittelbar die Tonart modulieren kann“, was besonders von Nutzen ist, wenn man in größeren Ensembles spontan aufeinander reagiert.

In der klassischen Orchestermusik gibt es kaum interessante Stücke für Harfe, klagt Newsom, weswegen sie zeit ihrer Ausbildung meistens allein musizierte. Nur einmal im Jahr packte sie das Instrument auf einen Kleinlaster und fuhr damit zum Summer Folk Camp in der kalifornischen Wüste: Hier trafen sich Folkmusiker aus aller Welt, um gemeinsam zu jammen und so wüst wie möglich ihre Stile zu mischen: „vom Balkan, aus Indien, Venezuela, Westafrika: Jede nur denkbare Folktradition war vertreten, und weil ich immer die einzige Harfenistin war, musste ich in jedem Stil spielen – am Ende konnte ich sogar Bluegrass auf der Harfe.“

Das Studium der Komposition und der Neuen Musik, das Newsom im Alter von 17 Jahren aufnahm, hat sie jedenfalls schnell wieder aufgegeben – auch wenn sie Komponisten wie Terry Riley, Pauline Oliveros oder Lou Harrison bis heute als prägende Vorbilder nennt. An der Hochschule aber wollten alle nur noch mit dem Computer arbeiten, „da saßen lauter Leute, die überhaupt kein richtiges Instrument mehr beherrschen, die keine Partituren mehr schreiben können, sondern nur noch clicken und cutten, irgendwelche Noise-Signale auf irgendwelchen Charts hin und her schieben. Das wollte ich nicht.“ Statt dessen begann sie selber zu texten und komponieren und suchte die Nähe der „Weird America“-Szene, der neuen Folk- und Freakout-Musiker. Sie trat mit Devendra Banhart und Ben Chasny auf; Will Oldham alias Bonnie „Prince“ Billy vermittelte ihr Debütalbum an das Drag City Label.

Auf „The Milk-Eyed Mender“ waren vor zwei Jahren ausschließlich die Harfe und Newsoms leidenschaftlicher, hoher Gesang zu hören. Auf „Ys“ ist diese elementare Dyade nun in ein reiches, fast verschwenderisches Klangbett gelegt. Das Streichorchester hat Van Dyke Parks arrangiert, der in den Sechzigerjahren als Arrangeur für Brian Wilson und die Beach Boys bekannt wurde (und unlängst mit Wilson dessen „verlorenes“ Album „Smile“ fertigstellte). Newsoms Harfe und ihr Gesang wurden von Steve Albini abgemischt – als Gitarrist in den Bands Big Black und Shellac ebenso wie als Produzent von Nirvana, Jesus Lizard und Whitehouse ein Meister des brutalen Rocksounds, der ohrensägenden, aus allen nur denkbaren Richtungen aufs Hirn einstechenden schmerzhaften Hochfrequenzen. „Er ist der beste Sound Engineer, den ich mir wünschen konnte“, sagt Newsom, und tatsächlich haben ihre Stimme und deren delikate Verstrickung in die Schroffheit des Harfenspiels in Albini den idealen Counterpart gefunden: die Spitzen, die er aus ihrem entrückten Meckern und Kieksen feilt, bilden an den besten Stellen so etwas wie einen eigenen Beat.

„Aber das Allerbeste ist“, ergänzt sie zum Schluss: „Er ist der letzte große Rockproduzent, der mit analogen Geräten arbeitet!“ Auch die Orchesteraufnahmen, die im Sommer in Los Angeles stattfanden, wurden auf ihren Befehl analog produziert. „Den Gesichtsausdruck hätten Sie sehen sollen – als die Orchestermusiker zum ersten Mal ,tape rewind‘ in ihren Kopfhörern hörten! Bestimmt die Hälfte von denen hatte noch nie mit einer richtigen Bandmaschine gearbeitet! So jung sind die alle gewesen“, sagt das inzwischen immerhin 24-jährige Mädchen, das nur widerwillig dem Wunsch der Plattenfirma zugestimmt hat, „Ys“ auch als CD herauszubringen – und nicht nur als Vinyl-LP. Das Booklet der Platte ist wie ein leinengebundenes Buch gestaltet, für das Cover hat sich Newsom im Stil eines Albrecht-Dürer-Selbstporträts malen lassen. Mit einem Blumenkranz im Haar und einer Sichel in der Hand sitzt sie vor einem Fenster, das den Blick auf weite Landschaften freigibt; im Fensterrahmen ist gerade ein Rabe gelandet, in seinem Mund eine Kirsche: Komm heim!

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