Re: Nikos Favoriten

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nikodemus

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NICO – Desertshore
Island 1970

“And she totally changed her image from being a blonde and wearing white to hennaing her hair and wearing black, and lived the dream. Everything that she did was part of a statement that now she was a different person” [John Cale]

Ähnlich wie wohl die meisten, die sich für Musik interessieren, lernte ich Nico über The Velvet Underground und ihr epochales Debüt kennen, hörte zum ersten Mal bei „Femme Fatale“ und „I’ll Be Your Mirror“ den Klang ihrer androgynen Stimme, war irritiert und fasziniert zugleich und konnte nicht recht einschätzen, wer da singt. Einmal im Bann dieser traumhaft schönen, jungen Göttin, lässt diese Stimme niemanden mehr los. Nico verließ die Velvets und was folgte, blieb für sie und erst Recht für einen deutschen Künstler in der Musikhistorie einmalig.

Early Icon

Geboren wahrscheinlich im Oktober 1938 in Köln kam Christa Päffgen als Kriegskind zur Welt. Im jugendlichen Alter verließ Christa die Schule und wurde schnell entdeckt, modelte, schauspielerte und entdeckte die Welt der Reichen und Schönen in Berlin, Paris, Rom, London. Sie ließ sich von Alain Delon schwängern, der das Kind jedoch verstieß, welches dennoch von Delons Eltern aufgezogen wurde. In London lernte Nico, die sich musikalisch vor allem für (Free-)Jazz und Dylan interessierte, Brian Jones und Andrew Loog Oldham kennen, nahm die famose, mit hoher glockenheller Stimme gesungene folkige Single „I’m Not Sayin’“ (b/w „The Last Mile“) mit Jimmy Page auf und ließ sich von Andy Warhol nach New York in The Velvet Underground einschleusen, wo sie fortan als Chanteuse auftrat. Mittlerweile nannte sie sich Nico, abgeleitet vom Namen einer Ihrer Ex-Lover, dem griechischen Filmemacher Nico Papatakis. Nach Streitigkeiten mit Reed und Cale und um endlich selbstständig zu werden verließ die auf einem Ohre taube Nico The Velvet Underground und nahm ihr Debütalbum Chelsea Girl mit den geschassten Ex-kollegen unter Produzent Tom Wilson auf. Die Songs stammten zumeist aus der Feder von Reed/Cale/Morrison sowie dem jungen Jackson Browne. Nico hasste das folkige Album mit den kitschigen Flötenarrangements und fühlte sich, nachdem ihr Wunsch nach Drums und mehr Gitarren nicht erfüllt wird, wieder übergangen. Was folgen sollte, ist eine der größten Metamorphosen der Pophistorie.

Frozen Warnings

„She’d come up with the songs on the harmonium and they were very pretty, not characteristic of what you imagine a heroin user come up with, but really very melodic and tuneful songs” [John Cale]

Kurze Zeit nach Chelsea Girl kaufte sich Nico das Instrument, welches zu Ihrem besten, intimsten und im grunde einzigen Freund werden sollte. Ein altes Harmonium diente dazu, Nicos Persönlichkeit und ihre Rolle als Künstlerin zu begründen. Eingekleidet in Cales oftmals überarrangierten Streichereskalationen trug Nico dunkle, monotone Gesänge mit Tiefenwirkung vor, die dazu führten, dass Nico sich erstmals als Künstlerin und nicht als Marionette etablierte. Zum Markenzeichen ihres Spiels mit dem Harmonium wurde ein Tipp, den sie von Ornette Coleman (!) erhielt, wobei der melodiöse Part mit der linken Hand sowie repetitive Akkorde mit der rechten Hand gespielt werden. Neben dem Harmonium trug vor allem Nicos Stimme zum trademark sound bei. Kalt, düster, modulations-, emotions- und ausdruckslos sind oft die Attribute, die den meisten zu Nico einfallen. Humbug zumeist, transportiert doch die klare Stimme mit deutschem Akzent doch permanent Gefühle aus, sei es auch nur Gefühle der Langeweile, Traurigkeit, Einsamkeit oder Resignation. Bemerkenswert auch Nicos Art zu phrasieren, Töne drone-artig zu halten, zu ziehen bis sie sich auflösten. Wollte Nico zu Zeiten der Velvets noch klingen wie Bob Dylan, hat sie auf The Marble Index ihre eigene Stimme und Stimmung gefunden.

Desertshore

„In the studio she would lose sight of exactly what the recording processed involved. At the end of the day she’d burst into tears and you’d wonder what you’d done to warrant this and she’d said…. I don’t know, it’s just beautiful”
[John Cale]

Waren einige Songs auf The Marble Index noch Skizzen, unfertig und roh, malte Nico ihre Songstrukturen auf Desertshore in glänzendem schwarz/weiß aus. Nico lernte den französischen Avantgarde-Regisseur Phillipe Garrel kennen und lieben, spielte eine wortkarge Schönheit in dem handlungslosen Wüstenaufnahmenfilm „La Ciatrice Intérieure“ und schrieb den Soundtrack zugleich mit.

Der melodiösem Opener „Janitor Of Lunacy“, den sie angeblich für Brian Jones geschrieben hat, klingt wie eine Erlösungsmesse, Nico Stimme selten schön, wenngleich wahnsinnig. Getragen von Cales Piano besticht auch „The Falconer“ mit kuriosem mittelalterlichem Phlegma. Worin genau die Schönheit dieser wunderlichen Tracks besteht, ist schwer zu beschreiben. Wie schrieb ein weiser User vor längerer Zeit, Nico akademisch zu analysieren würde zu einem Verriss führen.

Im semi-a capella lullabye extraordinaire „My Only Child“ schwankt Nico zwischen lyrischer Zartheit und unnachgiebiger Kälte. Im Refrain summmieren sich zwei hohe Stimmen zu Nico und man mag nicht glauben, dass dies Nico sein kann. Nicos Sohn Ari erweicht auf französisch im folgenden „Le Petit Chevalier“ die Herzen der Hören…“je suis le petit chevalier, avec le ciel dessus me yeux, je ne peux pa me effrayer“ (etwa: ich bin der kleine Ritter, mit dem Himmel vor meinem Auge, ich bin nicht geängstigt“). Im akzentfreiem Deutsch vorgetragenen „Abschied“ gedenkt Nico in einem schauerlichen memento mori ihrer kürzlich verstorbenen Mutter Grete. Selbst beschrieb Nico ihre Musik als “sort of elementary noise and elementary silence. That sometimes comes to an outbreak that becomes, you know, like an explosion”.

Im wahrhaft berührenden „Afraid“ verabschiedet Nico ihre Vergangenheit, paradoxerweise nicht radikal sondern im Wohlklang von Cales schönsten Arrangement, welcher er neben seinen Arbeiten für Nick Drake auf Bryter Layter je komponiert hat. Über der einfachen Piano- und Violameldie Cales, singt Nico ihre bittere Tränen dass es einem das Herz zusammen schnürt: „cease to know or to tell or to see or to be your own, have someone else’s will as your own, have someone else’s will as your own, you are beautiful and you are alone”. Ein letztes Mal in “Mütterlein” und “All That Is My Own” verzaubert Nico Ihre Hörer mit dem „gotischen Folk-Zeug” [Cale], das Harmonium und die Trompete spielt auf zum letzten Tanz und lässt mich ratlos zurück.

Femme Fatale

Die Magie von Nicos Solowerk erschließt sich spärlich, vielleicht gar nicht, zumal wichtige Punkte wie die eigene Projektion und Empathie für den Künstler bei Nico kaum zum Tragen kommen. Der Verwandlung dieser schönsten Frau die je vor ein Mikrofon trat, in ein Heroin-Wrack (welches sie letztlich wieder zur Marionette machte) zuzusehen und den mysteriösen Menschen Christa Päffgen und Ihre faszinierende, genrebildende und unergründliche Musik einzufangen, bleibt ein einmaliges, zeitloses Unterfangen. Achtzehn Jahre nach Desertshore und jahrelangem Drogenmissbrauch starb Nico nach einem Fahrradunfall an einer Hirnblutung.

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and now we rise and we are everywhere