Re: Nikos Favoriten

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nikodemus

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John Cale – “Fragments Of A Rainy Season”
(Hannibal Records – 1992)

Ein Mann und sein Klavier. Wäre es nicht John Cale, wäre es nicht weiter erwähnenswert, aber Cale ist eine der wenigen lebenden Legenden, ein musikalisches Genie. Die Vita ist beeindruckend und bekannt, Bernstein-Stipendium für Musik, Schüler von LaMonte Young und John Cage, musikalischer Kopf der wichtigsten Rock Band des 20. Jahrhunderts, Produzent der Stooges, Patti Smith und Nico, Experimentalist, Minimalist, Avantgardist, Misanthrop, Nihilist. Cale schrieb die surrealsten und schönsten Popsongs, schnitt einem Huhn auf der Bühne den Kopf ab, spielte auf und unter dem Klavier, heulte live im Radio, war Drogenwrack, Fitnessfreak, vertonte die Poesie von Dylan Thomas, schuf Ballettmusik und Soundtracks und eben diese großartige Liveaufnahme.

Seitdem ich „Fragments“ kenne, hat sich das Album von Jahr zu Jahr mehr in mein Herz gespielt. Mit Ausnahme von vier Songs, wo Cale Gitarre spielt, ist „Fragments“ ein reines Klavierkonzert. Ein Mann und sein Klavier. Ich weiß nicht mehr genau, wann es war, aber als ich zum ersten Mal „Hallelujah“ in dieser reduzierten Form hörte, wollte ich selbst Klavier spielen können (was ich seitdem auch tue). Ich kenne keinen anderen Musiker, der nur aus einem Klavier und ein paar Texten so viel herausholen kann, ob laut ob leise, schnell oder langsam, hart oder zart. „A Child’s Christmas In Wales“ ist ein perfektes Eröffnungsstück, eine perlende Melodie, ein geheimnisvoller Text und diese nasale, scheinbar emotionslose Stimme die das Stück wie ein Evangelium runtersingt. Im feinsten Staccato führt uns Cale durch die Säuferballade „Dying On The Vine“, brutal und ohne Mitleid blickt er zurück auf (s)ein verabscheuungswürdiges Leben. „I was with you down in Acapulco / trading clothing for some wine / smelling like an old adobe woman / or a William Burroghs playing for lost time // I was thinking about my mother / thinking about what’s mine / I was living my life like a Hollywood / but I was dying on the vine. Ich glaub ihm jedes Wort. Verlassen und einsam klagt er where were you, where were you? Where were you, when I needed you? in “Darling I Need You”. Die linke Hand spielt eine Melodie während die rechte in den Wahnsinn fällt, Cale überwirft sich und landet irgendwo in Paris, ca. 1919. Das umspielende Orchester von der Studioplatte ist hier verschwunden, Cale haut auf die Tasten ein, so dass er längst Blasen bekommen müsste. I’m the church and I’ve come / to claim you with my iron drum / la la la la la la la la la la . Der größte Schockmoment erlebe ich immer, wenn er “Fear” anspielt. Die feinen Anfangsakkorde überdecken den paranoiden Text noch (“standing, waiting for a man to show / wide eyed one eyed fixed on the door / this waiting’s killing me it’s wearing me down), doch spätestens wenn Cale im Zwischenteil dann das Piano zu zertrümmern versucht, läuft es einen eiskalt den Rücken runter. life & death are things you just do when you’re bored / say fear’s a man’s best friend! Seine Stimme überschlägt sich, Cale schreit und jede ergreifbare Melodie löst sich im Nichts auf. Eine besondere Bedeutung hat „Thoughtless Kind“ für mich, ein trauriges und dennoch tröstliches Stück Poesie über Abschied und Vorahnung

“if you grow tired of the friends you make
in case you mean to say something else
say they were the best of times you ever had
the best of times with the thoughtless kind

what we see, what we imagine, the eyes tell us nothing
the bright light in the eyes of the ones we love will tell you nothing
except you’re the toughtless kind”

Die drei vertonten Gedichte von Dylan Thomas aus Cales „Falkland Suite“ erscheinen ob der Reduktion umso intensiver, dunkler, enigmatischer. „Buffalo Ballett“ ist einer seiner melodischsten Balladen, Cale scheint indes keinerlei Mitgefühl für seinen Protagonisten zu spüren. Zum Schluss verbeugt sich Cale vor seinen Mentoren, der Andy Warhol Hommage „Style It Takes“ folgt seine furchterregende Version von Presleys „Heartbreak Hotel“. „feeling so lonely baby I could die“. Darauf seine Hymne, „I Keep A Close Watch“, pure Magie, eine Melodie wie flüssiges Gold und Cale gestohlene Mahung: “ I keep a close watch on this heart of mine“. Und ganz zum Schluss die Hymne aller Hymnen, Cohens „Hallelujah“. Mag auch der Witz und die Ironie von Cohen nicht durchschimmern, wie ergreifend sind diese sakralen, vieldeutigen Verse. Cales Stimme klingt schlicht und banal, ernst, nüchtern und eindringlich wie nie.

“it’s not a cry that you hear at night
it’s not somebody who’s seen the light
it’s a cold and it’s a broken hallelujah”

Strömender Regen setzt ein und „Fragments Of A Rainy Season“ geht zu Ende.
Musik in all ihren Facetten und Emotionen. Natürlich ersetzt diese Quasi Best Of nicht Cales essentiellen Studioplatten, zeigt aber einen Künstler auf der Höhe seiner Kunst – erhaben, majestätisch, würdevoll.

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and now we rise and we are everywhere