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Bob Dylan – “Time Out Of Mind”
(Columbia – 1997)
Es war das Ende meiner Abi Zeit. Ich war 18, 19 Jahre alt, unglücklich verliebt und kurz davor ein altes Leben hinter mir zu lassen, um ein Neues zu beginnen. Von Dylan kannte ich nicht viel, vor kurzem hatte ich mir eine „ultimative“ Collection im öffentlichen Kaufhaus gekauft, weil mir ein Cover von „Don’t Think Twice“ gefiel und ich auf das Original gespannt war. Dylan war mir kein sonderlicher Begriff, im elterlichen Haus gab es ja nicht mal „Blowing In The Wind“. Das Booklet war eine reine Lobhudelei auf Bob… Bruce Springsteen wurde zitiert („Bob hat unseren Geist befreit, so wie Elvis unseren Körper befreit hat“), der Einfluss auf Dutzende Rock- und Folkmusiker wurde herbeigeführt. Was zum Teufel interessierte es mich, ob Dylan einen Neil Young, Van Morrison, Waits oder sonst wen beeinflusst hat, ich kannte diese Typen alle nicht. Überraschenderweise kannte ich mehr von Dylan, als mir beim Kauf bewusst war – „Don’t Think Twice“, „Mr. Tambourine Man“, „Like A Rolling Stone“, „Quinn The Eskimo“, natürlich „Knockin’ On Heaven’s Door“. Gefallen fand ich hauptsächlich an seinem spartanischen Frühwerk, die vielen restlichen Songs überforderten mich. Ein paar unbekanntere Songs blieben jedoch hängen, darunter auch „Not Dark Yet“.
Eine Mischung aus allgemeiner Unzufriedenheit und postpubertären Hormonschwankungen brachten mich kurz darauf dazu, mein sauer verdientes Geld in Musik zu investieren. Meine Wahl fiel irgendwann auf „Time Out Of Mind“, immerhin mochte ich “Not Dark Yet” und hoffte einfach mal auf weitere Perlen dieser Art. Was hätte ich auch sonst kaufen sollen, Musikmagazine kannte ich nicht und das Internet war mir noch ein Buch mit mindestens sieben Siegeln.
Auf der Zugfahrt nach Hause wurde „Time Out Of Mind“ gleich in den portablen CD Player eingelegt. Der Opener, das unheimliche „Love Sick“ erzeugt heimatliche Gefühle. Hier war endlich mal einer genauso schlecht drauf wie ich. ”My feet are so tired, my brain is so wired – And the clouds are weeping”. Es begann zu regnen und es schien, als wäre ich nicht mehr ganz allein mit meinem Schicksal. „Dirty Road Blues“ war eine völlig neue, ungehörte Erfahrung für mich. Doch welche Zeilen konnten meine Situation besser beschreiben als ”Rolling through the rain and hail, looking for the sunny side of love”. Ich ertappte mich selbst dabei, wie ich mein Bad aus Lethargie und Phlegma kurzzeitig verließ und mit dem Fuß mitwippte. Das war nicht meine eigentliche Intention, gute Laune konnte ich nicht gebrauchen.
Dementsprechend kam „Standing In The Doorway“ wie gerufen. Dylan schien Zeilen aus meinem (gedanklichen) Tagebuch zu singen. ”Yesterday everything was going too fast – Today, it’s moving too slow // All the laughter is just making me sad // I know I can’t win – But my heart just won’t give in// You left me standing in the doorway crying – Blues wrapped around my head”.
Die ersten Zeilen von “Million Miles” schlugen in dieselbe Kerbe… ”You took a part of me that I really miss; I keep asking myself how long it can go on like this”.
“Tryin’ To Get To Heaven schlug dann erstmals hoffnungsvolle Töne an. Zumindest kam es mir so vor. Dylans Worte waren recht einfach gewählt und so war es ein leichtes für mich, jede einzelne Zeile auf mein eigenes scheinbar verkorkstes Leben zu übertragen. ”When you think that you lost everything – You find out you can always lose a little more”… wie Recht er doch hatte. Alles war ok bevor ich mich in dich verliebt habe. Ok, nicht alles, aber ich hätte das schon irgendwie hinbekommen. Den Glauben, den Dylan in Gott zu setzen schien (“But I know God is my shield and he won’t lead me astray“), hatte ich zwar längst verloren, aber an was klammert man sich nicht alles, wenn man verzweifelt ist.
Der Regen wurde stärker und meine Hoffnungslosigkeit sollte noch nicht seinen Höhepunkt erreicht haben. ”It’s not dark yet, but it’s getting there” prophezeite Dylan. Aber wenigstens war hier einer, der mein Schicksal teilte. “I’ve still got the scars that the sun didn’t heal“…ok, mir war schon bewusst, dass Dylan hier nicht über meine Hautunreinheiten und diese verdammten Pickel (warum hatte ich die eigentlich noch?) sang, aber auch hier schien er mich irgendwie zu verstehen. Wir hatten beiden irgendwie schon mit der Menschheit abgeschlossen, vielleicht im unterschiedlichen Sinn, aber vormachen konnte man uns nichts mehr… “Behind every beautiful thing there’s been some kind of pain”
“Cold Irons Bound” riss mich etwas aus meiner Larmoyanz heraus und meine Enttäuschung über diese unglückliche Liebe wich zu kleinen Teilen der Wut. ”There’s too many people, too many to recall
I thought some of ‚m were friends of mine; I was wrong about ‚m all”. Als hätte ich euch nicht schon längst durchschaut. Dylan dehnte und zog die Wörter in diesem wüsten Rocker, spuckte und krächzte. So schnell kriegt ihr uns nicht klein. „To Make You Feel My Love“ machte leider da nicht weiter, wo Dylan mich zurückgelassen hatte. Ein Wechselbad der Gefühle. Diese bezückende Ballade, Dylans schlichtes Pianospiel und dieser rührselige Text konnte ich jetzt gar nicht gebrauchen. Bittere Wahrheiten. ”I could make you happy, make your dreams come true”
Wie Dylan wollte und konnte auch nicht warten, bis sich was änderte. Genauso rhythmisch wie „Can’t Wait“ vorüberzieht, saß ich ungeduldig in meinem Zug und wusste nicht, was ich tun sollte. ”I’m doomed to love you, I’ve been rolling through stormy weather – I’m thinking of you and all the places we could roam together”
Zum Abschluss “Highlands”, die Reise an einen Ort inneren Friedens und Zufriedenheit. Die monotone, nie enden wollende Suche nach Heimat, die letzte Reise zu einer „time out of mind“. Well, my heart’s in the Highlands at the break of day – Over the hills and far away – There’s a way to get there, and I’ll figure it out somehow – But I’m already there in my mind – And that’s good enough for now
Angekommen sind wir beide nicht.
Seltsam, wenn ein alter Mann von alten Zeiten und zukünftigen Zeiten singt und einem jungen Mann damit aus dem Herzen zu sprechen scheint. Wie eine Stimme, die (wie Greil Marcus schrieb) mit 50 Staaten und 400 Jahren auf dem Buckel beladen ist, die gleichen Gefühle von Bitterkeit und Enttäuschung evozieren kann, die mir damals im Zug durch den Kopf gegangen sind. „Time Out Of Mind“ stellt für mich den Soundtrack dieser Zeit dar, diese Zeit des Aufbruchs, der unbefriedigenden Vergangenheit und ungewissen Zukunft. So wurde Bob Dylan für mich zu dem, was Kurt Cobain für die Generation X wurde und „Time Out Of Mind“ wurde zu meinem „Nevermind“. Später fand ich an den kryptischen Texten und den geliebten sprachlichen Manierismen Gefallen, die Bedeutsamkeit meines ersten Dylan Albums konnte indes kein Anderes mehr erreichen…
Irgendwann bin ich aus dem Zug ausgestiegen. Der Regen hatte nachgelassen, aber der konnte mir sowieso nichts mehr anhaben. „Time Out Of Mind“ war der Aufbruch in eine neue Zeit – Modern Times
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and now we rise and we are everywhere