Re: Nikos Favoriten

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nikodemus

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Elliott Smith – “XO”
(Dreamworks – 1998)

Wie wohl viele andere auch, entdeckte auch ich Elliott Smith durch Gus Van Sants Film “Good Will Hunting”. Songs von Elliott Smith haben oftmals ähnliche Charakteristika, beim ersten Hören verwundern noch die ungewöhnlichen Melodien und Akkordwechsel, beim mehrmaligen Hören kommen sie einem vertraut vor und irgendwann glaubt man, jede Melodie mitpfeifen zu können.
Zu der Zeit als Elliott „XO“ aufgenommen hat, hatte er schon einiges in seinem knapp 30jährigem Leben hinter sich. Seine Eltern trennten sich kurz nach seiner Geburt und Elliott zog zusammen mit seiner Mutter nach Duncanville, Texas. Als Jugendlicher entschied er sich bei seinem Vater in Portland, Oregon zu leben. Zu dieser Zeit benannte er sich auch in Elliott um (sein Geburtsname ist Steven Paul Smith). Auf dem College gründete er zusammen mit einem Freund die Band Heatmiser, die aber Punk und Rock spielt, was auch der Grund war, dass Elliott sich von ihnen trennte und von nun an Solo weiter machte. Elliott kam schon als Jugendlicher mit Marihuana in Berührung, später kamen weitere Drogen, Alkohol, Schlägereien und psychische Probleme hinzu. Im Grunde waren Elliott Songs die perfekte Untermalung für „Good Will Hunting“, spiegelte es doch in Ansätzen sein eigenes unzufriedenes Dasein wider. Durch den Erfolg des Film und eine Oscarnominierung des Songs „Miss Misery“ bekam Elliott einen Plattenvertrag bei Dreamworks. Das Resultat davon wurde „XO“, das vielleicht größte und schönste Popmeisterwerk der 90er Jahre.

Der Opener „Sweet Adeline“ beginnt mit Elliotts vertracktem Gitarrenspiel und ein einer Geschichte von dem Ende einer Beziehung… was für ein passender Auftakt. Beim Refrain addieren sich Drums, Piano und ein Chor hinzu (den Elliott über verschiedene Gesangsspuren immer selbst aufnahm). Am Ende des Songs wünscht sich Elliott nur noch ein Beruhigungsmittel, um den Kopf mal abzustellen und freizukriegen und genau diesen sedativen Effekt strahlt auch seine Musik aus.
„Tomorrow Tomorrow“ erzeugt eine sehr warme Atmosphäre, Elliotts elegantes Fingerpicking in Kombination mit straightem Strumming, verschiedene Gesangsspuren begleiten seine Stimme und lassen so die Texte noch kryptischer und beängstigender wirken.
Der Titelsong („Waltz #2“) ist eine Liebesgeschichte über das Verlassenwerden. Eigentlich hat sie ihn gar nicht verdient, sie, die keine Gefühle zeigen kann und irgendwie ist er froh, dass sein Name schon längst aus ihrem Gedächtnis gestrichen wurde… und dennoch, obwohl er das Gefühl hat, „sie“ nie richtig gekannt zu haben, irgendwas hat sie, dass er sie immer lieben wird. „XO“ steht hierbei für „hugs & kisses“, die er sich wohl von seiner Mutter zur Aufmunterung wünschte.
Das folgende „Baby Britain“ ist eine Hommage an die Beatles, eröffnet durch ein wundervolles Piano erzählt er Elliott die Geschichte einer Trinkerin, die ihr Leben wegschmeißt, weil sie sich nicht helfen lassen will oder kann. Ein toller Popsong, zu dem man tanzen möchte, wenn er nicht so tragisch wäre.
In „Pitseleh“ erzählt er über eine unglücklichen Liebe zweier Menschen, zu einer einsamen Gitarre fügt sich im Mittelteil ein wunderbares Klavier hinzu und Elliott säuselt

“they say that god makes problems, just to see what you can stand
before you do as the devil pleases and give up the thing you love”

Und so reiht sich eine unglückliche Liebe an die Nächste, ein Popjuwel an das Andere und jeder Song besitzt winzigkleine Details, die jeden Song zu einem kleinen Highlight machen. Im wunderbaren „Waltz #1“(man kann dazu wirklich Walzer tanzen, ich hab’s probiert) raubt mir das Ende immer der Atem, wenn die Streicher einsetzen, das pulsierende, leise Klopfen der Bass-drum wie ein Herzschlag aufhört zu schlagen und Elliott immer wieder „I wish I’d never seen your face“ wiederholt, als würde er um Luft schnappen.
Wen das immer noch nicht überzeugt hat, sollte sich „Oh Well, Okay“ anhören. Auch hier addieren sich zu Elliotts ruhiger, relativ tiefer Stimme im Mittelteil sehr schöne Streicher bis der Song über geht in die Bridge, die Tonart wird vertieft, wobei Elliott seine Stimme um fast eine ganze Oktave erhöht und die Spannung in ungeahnte Höhen treibt. „Bottle Up And Explode“ ist auch wieder ein perfekter Popsong, wie ihn nur Elliott schreiben konnte, unterschiedliche Tempowechsel, Streicher, Gitarre, Drums bauen einen Spannungsbogen auf, ebben wieder ab und dazu diese dringliche Stimme. Abschließend sei noch das wundervolle „I Didn’t Understand“ erwähnt, wo Elliott Smith sich selbst a cappella in feinster Brian Wilson Manier begleitet mit Harmonien, die einen die Tränen in die Augen treiben.

„XO“ bleibt mich das Opus Magnum in Elliott Smiths Karriere, auch wenn „Either/Or“ für seinen musikalischen Werdegang vermutlich wichtiger war. Das Rudiment früherer Songs, die komplexen Songstrukturen und Harmonien, werden auf „XO“ weiter mit verschiedenen Farbtupfern wie Piano und Streichern ausgefüllt und führen so dazu, dass „XO“ niemals eintönig klingt. Leider nahm das Schicksal nun mal seinen Lauf und es sollten nur noch zwei wunderbare Alben folgen. Mit „XO“ bleibt er aber zumindest für mich unvergessen.

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and now we rise and we are everywhere