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Ich hole das aus dem Thread zu JanPPs Blindfold Test hier rüber – Anlass war ein Track von Bill Frisell sowie ein Track eines noch nicht identifizierten deutschen Jazzgitarristen, der sich in seiner Musik deutlich auf John Scofield zu beziehen scheint.
Hier zuerst mal vorgartens Kommentar zum betreffenden Track (mit einer kleinen Korrektur, die ich mal einfach so vornehme – man muss ja nicht Fehler perpetuieren):
vorgartenhier machen jazzer funk, das klingt nach john scofield und ist sowas von hart zu ertragen für mich… eine yuppie-delicatesse, muckertum, vordergründig tricky, aber so schulterklopfend sicher im schiefen rhythmus. das war große mode, als ich anfing, jazz zu hören (anfang der 90er), als delikate jazzrock-weiterentwicklung, das nur kurz zwischen after-work-besuch beim befreundeten hifihändler und toskana-rotwein auf dem heimischen schwarzen zweieinhalbsitzer leicht zu leben anfängt. ist das scofield mit lovano? das wäre dann der von mir mit entsetzen wahrgenommene höhepunkt dieser greuel. falls ich irgendwie aus dieser nummer noch rauskommen will: perfekt gespielt natürlich, alles ganz sauber. technisch (auf allen ebenen). gute musiker (in anderen momenten). sorry.
Dann die heutige Diskussion, die ich interessant genug finde, um sie hierhin zu holen – und ich fände es auch besser, hier weiterzudiskutieren, weil man solche Dinge eher im Thread hier suchen wird als in einer BFT-Diskussion!
ferryAnfang der 90er hat mein WG- Kollege auch andauernd Scofield gehört, aber es hat mich überhaupt nicht interessiert (Jazz-Muffel). Zur Zeit bin ich aber dabei ihn neu zu entdecken. Und ja, der Kollege hatte Lackschuhe und Gel in den Haaren! Aber als Mensch war er voll in Ordnung.
Man sollte zuerst mal auf die Musik hören, und da höre ich bei Scofield schon eine Menge raus. Nämlich eine ganz eigene Handschrift und eigenständige musikalische Ideen.
Seine schrägen und verschachtelten Läufe als Muckertum zu bezeichenen, das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen. Das sind doch mal Soli fernab von den üblichen Klischees.
Im Kern kann ich Deine Kritik aber schon nachvollziehen, denn die Musik hat schon so einen Touch
gypsy tail windSchön, dass noch jemand Sco verteidigen mag (der hier ja gar nicht zu hören, aber bestimmt die Referenz ist)… mein eigenes Verhältnis zu ihm ist – jenem zu Frisell, Abercrombie oder Metheny nicht unähnlich – stets etws zwiespältig… da sind Dinge zu hören, die machen irrsinnigen Spass, manchmal passen mir die leich verschrobenen Grooves einfach perfekt, dann greife ich zu den drei Blue Note-Alben mit Lovano oder dem einen mit Eddie Harris… manchmal höre ich auch sehr gerne das ältere Trio mit Steve Swallow (ich besitze da nur „Shinola“), oder die arrangierteren Blue Note-Alben „Grace Under Pressure“ und „Groove Elation“ sowie das sehr tolle „Quiet“, das den Wechsel zu Verve signalisierte (man mag das für high end Muzak halten, man irrte aber). Von den jüngeren Alben schätze ich dann „Up All Night“ von 2002, ein kleines Groove-Ding, das mir immer wieder mal Spass macht. Anderes ist eher enttäuschend („Works for Me“, „Trio Live“), oder ich kenne und schätze bloss Radio-Mitschnitte (Ray Charles-Homage, Trio Live-Band… da gibt’s besseres als auf dem Verve-Release, finde ich).
vorgartengut, das war ein hassausbruch, und der war nicht gegen scofield (den ich nicht kenne) als mensch gerichtet, sondern in der tat gegen die musik – die ich aber auch nicht ’schlecht‘ finde, sondern einfach nicht so gut wie ihren damaligen hype.
ich habe gut verstanden, dass miles nach mike stern scofield in seine band geholt hat – dessen leichterer, funky approach sehr gut in die poppige richtung passte, in die miles damals unterwegs war. und da ist scofield tatsächlich sehr besonders – in seinen leichten, schnellen, wischenden sounds. wo ich aber sofort widerspreche, ist die angebliche klischeefreiheit seiner soli – ich finde sie nichts als klischeehaft, skalengedudel rauf und runter, ohne tiefe, ohne originalität – aber sauber, perfekt und auf den punkt. eben das ist muckertum, mit allem, was einem positives oder negatives dazu einfällt. mir kommt vieles da einfach falsch vor – wenn er blues spielt, kommt mir das pseudo vor, weil mir das entscheidende dazu fehlt.
frisell ist natürlich originell als programm. auch das hat vor- und nachteile, wenn man überhaupt so hört oder argumentiert. ich finde, dass er ziemlich viel ‚erfunden‘ hat, rein technisch, was seine synth-geschichten angeht. und er hat das immer so gemacht, dass er’s drauf hat und sich nicht von der technik spielen lässt. davor habe ich großen respekt. was da aber (in freidrichs worten) im gewande versteckt sein soll, welche abgründe das haben soll, ist mir nicht ganz klar. ich finde frisell ziemlich gerade heraus, in seiner art auch ohne ecken und kanten.
metheny ist ganz anders, da er völlig ironiefrei immer in die vollen geht – wenn er kitsch spielt, dann ist es kitschig, wenn er noise spielt, ist es laut. improvisatorisch ist das genauso klischeehaft wie bei scofield, aber man kann ihn ernster nehmen in allem, sich auch mehr über ihn ärgern.
abercrombie gefiel mir immer viel besser, weil er (bei wirklich beachtlicher virtuosität, die aber ziemlich zurück gegangen ist seit den 1990ern) sehr gefühlvoll spielt, auf eine unkitschige weise – ihm glaube ich jeden blues sofort. habe nie verstanden, warum manche sein spielt als „kalt“ bezeichnen – wahrscheinlich weil die licks nicht so popmäßig zünden und man den eindruck hat, er spiele technischer.
ganz persönlich bin ich mit meinen gitarristenvorlieben viel stärker auf der schwarzen seite. james blood ulmers repertoire ist zwar begrenzt, aber einzigartig; vernon reid finde ich ganz großartig (leider wird das oft schlecht produziert) und jean-paul bourelly ist total unterschätzt und lebt leider zu sehr außerhalb der wahrgenommenen szenen, um so präsent zu sein wie er sein könnte. auch da bin ich wieder bei miles, bei dem bourelly scofield abgelöst hat. und der gitarrist mit dem grandiosesten akkordspiel, der so frei und losgelöst spielen kann, dass alles schräge und ‚gegen das instrument gerichtete‘ wie easy listening klingt, ist ohnehin kevin eubanks. der wiederum hat ein geschmacksproblem und zu lange nightshow-begleitbands geleitet…
der definitive gitarrist des post 80s-jazz muss einfach noch geboren werden!
gypsy tail windSchöne Zusammenfassung – das meiste davon kann ich unterschreiben und eigentlich alles (auch Deine Haltung zu Scofield) nachvollziehen. Und das Fazit unterzeichne ich wohl ebenfalls… wobei ich es für möglich halte, dass die gesuchte Person in Mary Halvorson schon da ist
ferryLeider kenne ich Scofield doch zu wenig, um Dir [=vorgarten – gtw]vernünftig entgegnen zu können. Zumindest das Album „Time on My Hands“, das ich mir letzte Woche gekauft habe gefällt mir sehr gut. Ich höre da durchaus erheblich mehr raus als Skalengedudel. Der Tiefgang liegt meiner Ansicht nach bei Scofield auch eher in der grossartigen Komplexität seiner Soli. Der Blues ist aber bestimmt nicht sein Terrain.
Um nochmal zu Frisell zu kommen- ich habe mir mal einiges auf youtube angehört. So richtig gepackt hat es mich immer noch nicht. Mir gefällt, dass er der Musik Raum gibt und nicht zu viele Noten und auch melodiös spielt. Mir gefällt aber nicht, dass er andauernd auf seinen Effektgeräten rumdrückt und sich so manchmal mehr auf das Effektgerät konzentriert statt aufs Gitarrespielen. Und die Stücke, die er spielt könnten auch abwechslungsreicher und eigenständiger sein (so war nur mein erster Eindruck!)
vorgartenfrisell anzusehen ist eine qual! aber wenn du es nur hörst, kriegst du nichts von dieser effektgeräte-choreographie mit und alle sounds kommen organisch und fließend.
aber wenn dir ironisch-experimentelle gitarrenmusik spaß macht, kannst du auch gleich zu marc ribot oder arto lindsay übergehen, deren repertoire ist zwar viel begrenzter, das macht manchmal aber mehr spaß (in meinem fall trifft das speziell auf lindsay zu).
mary halvorson muss ich unbedingt mal vertiefen!
gypsy tail wind@ferry:
Hast Du mal was von Bass Desires angehört, der Band des Bassisten Marc Johnson mit Frisell und Scofield? Das ist Musik, die man am besten richtig laut hört (ich glaub das mach ich heute mal wieder). Vielleicht ist das ein Frisell-Einstieg für Dich? Frisell ist ein derartiges Chamäleon (das zugleich stets ganz sich selbst bleibt), dass ich echt Mühe habe, Dir einen geeigneten Tip zu geben!@vorgarten:
Das mit Halvorson ist auch mehr Spekulation… ich hab sie ein paar Male live gehört und sie hat mich sehr überzeugt. Auf CD habe ich bisher bloss die hatOLOGY CD, die nicht an die Live-Konzerte herankommt.
Marc Ducret wäre auch noch zu nennen – das Konzert, das ich vom Trio Ducret/Roberts/Black gehört habe, war wohl eins der besten in Sachen Gitarre.
Noch ein Gedanke: vielleicht ist die Zeit der Gitarre im Jazz auch einfach um? Es gibt Leute wie James Emery oder Liberty Ellman, die mit (halb-)akustischer Gitarre arbeiten und völlig andere Klänge suchen, ansonsten fällt mir da vielleicht noch Brandon Ross ein, oder Olu Dara, Michael Jackson, aber das reicht dann schon wieder bis in die 70er zurück… der Haupt-Pfad der Jazz-Gitarre scheint mir jedenfalls ganz gehörig ausgetrampelt und die Platzhirsche haben wir bereits alle abgehakt…
Ellman ist für mich wohl neben Halvorson die spannendste Stimme derzeit.
ferryFrisell UND Scofield ?
Heute Abend werde ich mich mal nach Hörproben dazu umsehen, und dann berichten.
Mit dem laut hören hab ich natürlich wieder das Problem Compi+ Kopfhörer, aber es wird schon reichen für einen ersten Eindruck!
gypsy tail windYep. Auf Youtube gibt’s 3sat-Ausschnitte – die sollten sich eignen, um mal probezuhören. Die beiden ECM-Alben heissen „Bass Desires“ (rec. 1985) und „Second Sight“ (rec. 1987), ich hab grad das erste eingelegt… hinschauen würd ich auch nicht, allein die Frisuren könnten den Eindruck eines Geschmacksproblems erwecken!
Hier mal ein erster Link (das Stück ist auch der Opener des ersten Albums):
http://www.youtube.com/watch?v=0ML3Pj5AijYIn Sachen Eubanks/Geschmacksproblem: mir scheint, dass Gitarristen ganz allgemein in Sachen Geschmacksprobleme sowieso herausragen
vorgartendara kenne ich nur als kornettisten… brandon ross ist akustisch toll, elektrisch eher mittelmäßig. ich mag den hier schon erwähnten nelson veras sehr gerne –
ne, ich glaube ganz im gegenteil, dass die zeit der gitarre noch nicht gekommen ist. es gibt keinen grund, ein instrument abzuschreiben. der jazzrock-weg aus den 80ern ist ausgelatscht, aber sonst ist noch alles drin.
redbeansandrice“Olu Dara“ meint Manu Codjia? der ist jedenfalls gut, Halvorson’s Album Dragon Head find ich super, das im Quintett eigentlich auch (Saturn irgendwas), von Ducret kenn ich nur ein Album (Gris) das find ich sehr gut, ansonsten wurde ja dieser Lionel Loueke schwer gehypt, war vielleicht etwas übertrieben, aber ganz gut fand ich den schon… und was ich von Nir Felder (zB Gitarrist bei Greg Osby) gehört hab, hat mir auch gefallen..
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"Don't play what the public want. You play what you want and let the public pick up on what you doin' -- even if it take them fifteen, twenty years." (Thelonious Monk) | Meine Sendungen auf Radio StoneFM: gypsy goes jazz, #159: Martial Solal (1927–2024) – 21.1., 22:00; #160: 11.2., 22:00 | Slow Drive to South Africa, #8: tba | No Problem Saloon, #30: tba