Re: Talking Heads

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Ich weiß nicht, ob es sinnvoll ist, das Werk einer Band zu bilanzieren. Die Wahrnehmungen und damit die Urteile sind je nach Betrachter verschieden. Es kommt nicht nur darauf an, wann und unter welchen Umständen man mit einer bestimmten Musik konfrontiert wird, es kommt auch darauf an, ob diese Musik beim Hörer auf etwas trifft, das es zum resonieren bringen kann. Aber gerade die Möglichkeit verschiedener Perspektiven macht die Diskussion über Musik ja erst interessant.

Bei mir haben sich die Talking Heads – zumindest was etwa die erste Hälfte ihrer Karriere betrifft – quasi als individuelles kulturelles Erbe eingebrannt. 1980/81 traf REMAIN IN LIGHT bei mir einen Nerv und öffnete Türen in bislang von mir nicht für möglich gehaltene musikalische Erlebniswelten. Nie zuvor hatte etwas so überbordend intensiv, spannend, funky (den Begriff kannte ich damals wahrscheinlich noch gar nicht!), aber auch gleichzeitig nervös, komplex und intelligent geklungen. Und paradox, das wollen wir nicht vergessen: Die TH boten keine Lösungen an – nein – da kamen all die Konflikte und Widersprüche, die man auch selber so erlebte sogar noch zugespitzt auf den Tisch bzw. auf den Plattenteller. Das war eine beeindruckende, im Nachhinein würde ich sagen, geradezu körperliche Erfahrung.

Im Eilverfahren kaufte ich mir die vorherigen Platten der TH oder lieh sie bei Freunden aus und kopierte sie auf Musik-Cassette. Songs wie DON’T WORRY ABOUT THE GOVERNMENT, PULLED UP, THE GOOD THING, BIG COUNTRY, CITIES, HEAVEN oder ONCE IN A LIFETIME bildeten den Soundtrack meines Lebens und noch heute zitiere ich in Gedanken Textzeilen aus diesen Liedern. Bin ich mal in Suburbia unterwegs, kommt mir zwangsläufig die Zeile „I wouldn’t live there if they paid me“ in den Sinn, und wenn ich heute – mehr als 25 Jahre später – im Büro sitze denke ich dann und wann auch mal „Well… How did I get here?“ Es ließen sich noch viele weitere Beispiele finden. („I changed my hairstyle so many times now, …“)

Mit SPEAKING IN TONGUES und STOP MAKING SENSE erreichten die TH meines Erachtens einen Höhepunkt als Band, die sich der körperlichen Wirkung ihrer Musik bewusst ist und diese gezielt einsetzt. Da geht es um die befreiende Wirkung von Tanz, fast schon so etwas wie ein Ritual, durch das man sich in Extase versetzen kann. Solch eigentlich sinnlosen, aber umso suggestiveren Textzeilen wie „Watch out / you might get what you’re after“, „I’m an ordinary guy / burning down the house“ oder „Let me tell you a story / The devil, he has a plan“ unterstützen das eigentlich nur noch.

Danach ging es für mich mit den TH langsam bergab. Ich weiß, die Meinungen über LITTLE CREATURES gehen weit auseinander. Ich persönlich vermisse hier die Nervosität, die Widersprüchlichkeit, das Exstatische – kurz: Den Sturm und Drang. Das breite Publikum liebte das jedoch umso mehr. Es sei ihm gegönnt! Ich verlor damit das Interesse an den TH, die späteren Alben habe ich erst Jahre später gekauft, weiß sie inzwischen zwar zu schätzen, sehe aber auch deutlich ihre Schwächen. Aus der Distanz betrachtet beurteilt man aber auch manches etwas milder.

Ein anderes interessantes Thema, über das sich zu reden lohnen würde, wäre natürlich die interne Rollenverteilung der einzelnen Mitglieder der TH. David Byrne, der wohl unbestreitbare kreative Kopf und charismatische Frontmann der Band, aber wohl auch schwierige Charakter einerseits, andererseits Tina, Chris und Jerry, die zwar begabten und zuverlässigen Musiker, die aber letztlich nicht genug eigene Originalität besaßen um es alleine zu schaffen. Gemeinsam schaffte man es bis ziemlich weit oben, um sich dann in gruppendynamischen Konflikten gegenseitig zu zermürben und schlussendlich den Weg alles Sterblichen zu gehen. Die Rolle von Brian Eno ist dabei noch einmal eine besondere.

Aber so ist das Leben und warum sollte es einer Band wie den Talking Heads anders ergehen?

Hiermit ist die Diskussion eröffnet! ;-)

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)