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ExtrabreitSchreib mal ruhig mehr, Juergen!
Gerne!
Produzent des neuen Albums sollte eigentlich Wally Badarou sein, der Keyboarder, der auch schon zu Zeiten von SPEAKING IN TONGUES mit den TH gearbeitet hat. Er ist Franko-Afrikaner und kennt sich dementsprechend mit der afrikanischen Musikszene in Paris aus. Aus terminlichen Gründen ist er jedoch verhindert. Er stellt aber immerhin den Kontakt zu einigen Musikern her. Statt seiner wird der Brite Steve Lilywhite als Produzent angeheuert, der sich mit Arbeiten für u.a. Peter Gabriel, die Simple Minds, U2, den Rolling Stones einen Namen gemacht hast. Ein Profi also, der weniger für kreativen Input zuständig ist, sondern die Aufnahmen souverän managt.
In Paris mieten sich die Talking Heads im Davout Studio, einem ehemaligen Kino, ein. Jeden Tag wird so lange über die Grooves, die man in NYC aufgenommen hatte improvisiert, bis man so etwas wie ein Stück zusammenhat. Dabei spielen zahlreiche Musiker mit: Mory Kanté ist unter diesen einer der bekannteren Afrikaner. Dazu gesellen sich exotische Namen wie Abdou M’Boup oder Moussa Cissako aber auch ein gewisser Johnny Marr, dessen Band The Smiths kurz zuvor das zeitliche gesegnet hat. Insgesamt wirken neben den TH mehr als 25 weitere Musiker an den Aufnahmen mit, davon alleine 6 Perkussionisten. Nur Texte hat David Byrne mal wieder nicht. Die improvisiert er erst später und overdubbed sie im New Yorker Sigma Studio.
Und was ist am Ende dabei rausgekommen? Das Album NAKED, das 1988 erscheint, beginnt furios: Das Stück BLIND ist ein saftig funkiger, perkussiver Reißer, komplett mit fetten Bläsersätzen über den David Byrne mit heiserer, manisch wirkender Stimme singt. Erinnert fast etwas an REMAIN IN LIGHT, klingt aber konventioneller und leichter, poppiger. Das zweite Stück MR. JONES macht da weiter, wo BLIND aufgehört hat. Das klingt nach Salsa. TOTALLY NUDE hat dann einen deutlichen afrikanischen Einschlag (Ist das High Life oder Juju? Ich kenne mich damit nicht aus …) und DB schwärmt dabei von den Vorzügen des einfachen Lebens in der paradiesischen freien Natur. Der Höhepunkt ist jedoch das Stück (NOTHING BUT) FLOWERS, bei dem David Byrne einen genau entgegen gesetzten Standpunkt einnimmt und sich in einer fiktiven postindustriellen und renaturisierten Welt beschwert, dass er auf all die Annehmlichkeiten der Zivilisation verzichten muss: „If this is paradise / I wish I had a lawn mower“ oder „ Years ago / I was an angry young man / I’d pretend / That I was a billboard / Standing tall / By the side of the road / I fell in love / With a beautiful highway / This used to be real estate / Now it’s only fields and trees“. Dazu hören wir etwas, das wie ein fröhlicher afrikanischer Popsong klingt. DBs lebhafter, fast triumphierender Gesang steht dabei in einem eigenartigen Kontrast zur Aussage des Textes. Alle Umweltschützer dieser Welt sind bestimmt entsetzt davon! Das schließt an solch doppelbödige Klassiker wie GOVERNMENT, BIG COUNTRY oder THIS MUST BE THE PLACE an und macht mir Spaß.
Aber dann gibt es leider auch eine ganze Reihe Stücke, die irgendwie uninspiriert klingen und sich nicht so recht entscheiden können, was sie eigentlich sein wollen. THE DEMOCRATIC CIRCUS ist noch ganz nett, aber vom Text her nun wirklich naiv (Ach tatsächlich, Mr. Byrne: Politiker sagen nicht die Wahrheit sondern versprechen immer nur das blaue vom Himmel? Na so was!). MOMMY DADDY YOU AND I ist auch nicht besser aber der absolute Tiefpunkt ist THE FACTS OF LIFE, ein klischeehafter New Wave Song im Roboterhythmus, in dem DB zu der Erkenntnis kommt „Someday we’ll live on Venus / And men will walk on Mars / But we will still be monkeys / Down deep inside“ Ach wirklich? BIG DADDY und BILL schließen dann wieder stilistisch an BLIND, MR. JONES, TOTALLY NUDE und FLOWERS an, ohne aber deren Klasse zu erreichen. Mit COOL WATER gibt es dann zum Abschluss ein Stück, das so klingt als sei es von einer anderen Session oder sogar einer anderen Band. Düster, bedrohlich, fast pathetisch. DB kann ein charismatischer Sänger sein, keine Frage, aber irgendwie klingt das Stück hier etwas deplatziert.
Die Mitwirkung franko-afrikanischer Musiker zeichnet sich mal mehr, mal weniger ab. Manchmal klingt’s aber auch eher karibisch. Die Stücke klingen mal mehr, mal weniger inspiriert. Einiges wirkt etwas halbherzig. Nicht, dass es keine Höhepunkte auf NAKED gibt. Aber es gibt nicht nur einige Stücke zweiter Wahl, sondern der eigentliche Schwachpunkt ist die Unentschiedenheit der Platte. Sie wirkt dadurch uneinheitlich und konturlos und funktioniert eigentlich nicht so richtig als Album. Selbst einem TH-Album, das ich persönlich nicht so gut finde, LITTLE CREATUERS, muss man eine konzeptionelle Klarheit und stilistische Prägnanz bescheinigen, die NAKED leider fehlt. Auch TRUE STORIES ist sicher kein großer Wurf, aber kann doch durch seine demonstrative Einfachheit und den augenzwinkernden Traditionalismus überzeugen. Bei NAKED kriegt man zwar von allem ein bisschen was, aber nichts so richtig.
Ich kann NAKED zwar durchaus mit einigem Vergnügen hören. Am Ende nehme ich davon aber bloß BLIND, FLOWERS, MR. JONES und den Bonustrack der 2006er Re-Issue SAX AND VIOLINS mit, vielleicht noch zwei, drei andere Stücke. Die sind gut. Der Rest ist, na ja, ganz nett. Aber man meint der Platte doch anzuhören, dass bei den TH 1987/88 die Luft raus war und die nötige Inspiration für ein wirklich gutes Album fehlte. Vielleicht war aber auch das eine oder andere Bandmitglied nicht so ganz bei der Sache, so dass der Platte etwas der Zug fehlt um zu einem wirklich befriedigenden Ergebnis zu kommen.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)