Re: Talking Heads

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Hier ist noch was liegen geblieben, das abgearbeitet werden sollte.

LITTLE CREATURES war die letzte Talking Heads-Platte, die ich in den 80ern gekauft hatte. Da ich von LC eher enttäuscht war, verlor ich etwas das Interesse an den TH. Ich habe in die nachfolgenden Alben zwar gelegentlich noch mal reingehört, aber so richtig gezündet hat das damals nicht mehr.

Erst vor ein paar Jahren habe ich mir dann aus sentimentalen Fantum die Remaster-CD von TRUE STORIES (1986) auf CD besorgt. Aus der Distanz betrachtet hat die Platte durchaus etwas zu bieten.

David Byrne verwirklichte 1986 endlich seinen Film TRUE STORIES. Ein Mockumentary (also ein Spielfilm, der so tut als sei er eine Dokumentarfilm) über die fiktive Stadt Virgil, Texas. DB tritt als naiv-neugieriger Besucher und Kommentator auf und stellt deren teils etwas kauzige Einwohner vor: Ein einsamer Junggeselle auf der Suche nach einer Frau, der dazu unter anderem die Hilfe eines Voodoo Priesters in Anspruch nimmt; das Bürgermeisterehepaar, das seit Jahren nicht mehr miteinander spricht; eine Frau die aus Reichtum und Faulheit niemals ihr Bett verlässt; eine notorische Lügnerin, die behauptet die Hits von Elvis geschrieben zu haben und sich für ihr Schweigen bezahlen lässt; ein Mann, der behauptet telepathische Fähigkeiten zu besitzen und einiges an Kuriosem mehr. DB philosophiert nebenher über Highways, Wellblecharchitektur und Shoppingcenter. Man sieht außerdem, das Texas landschaftlich etwa so reizvoll ist wie Brandenburg oder Friesland. Ein amüsantes distanziert-ironisches Panoptikum der Normalität und Exzentrizität Amerikas. (Irgendwie erinnert er mich ein wenig an Fellinis ROMA). Der Film war leider kein kommerzieller Erfolg. Ich weiß nicht, ob er damals in Deutschland überhaupt in die Kinos kam. Er ist aber auf DVD erhältlich und durchaus empfehlenswert.

Die Songs auf TRUE STORIES stammen sämtlich aus dem gleichnamigen Film. Anders als im Film, wo sie von Schauspielern in verschiedenen Szenen gesungen werden, ist auf der Platte aber David Byrne der Sänger. Es ist also offensichtlich, dass er als Sänger in verschiedene Rollen schlüpft. Mal ist er ein Voodoo-Priester (PAPA LEGBA), mal ein einsamer Junggeselle (PEOPLE LIKE US), mal ein paranoider Prediger, der Verschwörungstheorien entwickelt (PUZZLIN’ EVIDENCE), mal ist er auch ein Karaoke-Sänger (WILD, WILD LIFE). Musikalisch stellt sich das entsprechend als eine Mischung verschiedener Spielarten von Americana dar. R’n’R (WILD), Country (PEOPLE und DREAM OPERATOR), Zydeco (RADIOHEAD) und bei PAPA LEGBA klingen die Talking Heads fast wie die Neville Brothers. Im Gegensatz zur Vorgängerplatte LITTLE CREATURES gibt es auf TS keine polierte Mainstream-Produktion. Vielmehr klingt das alles etwas ungehobelt, fast wie live im Studio aufgenommen, was ich eigentlich sehr reizvoll finde. Das erste Stück, der Rocker LOVE FOR SALE reißt einen auch sofort mit, danach geht es mit PUZZLIN’ mit seinem Gospelchor kaum weniger rasant weiter. TRUE STORIES bietet zwar keine großartigen innovativen musikalischen Ideen, etwas, was man meint von den TH erwarten zu dürfen. Vielmehr bedienen sie sich ausschließlich traditioneller Formen us-amerikanischer Musik. Ich denke, das traf bei Fans (oder ehemaligen Fans wie mir) 1986 nicht so recht ins Schwarze. Im Nachhinein, muss ich aber feststellen, dass TS einige Songs enthält, die große Klasse sind. So simpel und traditionell einiges davon ist, so viel Spaß kann man mit LOVE FOR SALE, PUZZLIN’, WILD LIFE, DREAM OPERATOR oder PEOPLE LIKE US haben.

Meine beiden Lieblingslieder waren immer die beiden Countrystücke der Platte. DREAM OPERATOR ist eine melancholisch-sehnsüchtiges Stück mit wunderbarer Melodie und den Zeilen „When you were little / You dreamed you were big / You must have been something / A real tiny kid / (…) / And you dreamed it all / And this is your story / Do you know who you are? / You’re the dream operator“

PEOPLE LIKE US spricht eine ganz einfache Sache aus, die vermutlich jeder kennt und so erlebt hat (aber nicht zugeben würde, denn das ist nicht politisch korrekt): „We don’t want freedom / We don’t want justice / We just want someone to love / (…) / What good is freedom?“

Für mich zwei Stücke, die ich bedenkenlos neben solch Klassiker wie DON’T WORRY ABOUT THE GOVERNMENT, THE BIG COUNTRY, HEAVEN oder THIS MUST BE THE PLACE stellen würde.

Vielleicht gibt es etwas, was gleichzeitig ein Vorteil und ein Nachteil von TRUE STORIES ist. Einerseits klingt die unterproduzierte Aufnahme sehr frisch. Andererseits wünsche ich mir manchmal, dass jemand TS noch den letzten Schliff gegeben hätte. Nur ein Gedankenspiel: Ich habe LITTLE CREATURES mit LET’S DANCE von Bowie verglichen. Ich würde es wagen, TRUE STORIES mit OH MERCY von Bob Dylan zu vergleichen (die zugegebenermaßen ein paar Jahre später erschien). Daniel Lanois hat Dylan auf dieser Platte einen Sound gezimmert, der traditionell-amerikanischer klingt als Americana je geklungen hat. Ich würde mir beinahe wünschen Lanois wäre auch der Produzent von TRUE STORIES gewesen. Dann würden die TH auf PAPA LEGBA nicht nur ungefähr so wie die Neville Brothers klingen. Umgekehrt könnte ich mir sogar David Byrne gut als Sänger der Dylan-Songs EVERYTHING IS BROKEN und WHAT WAS IT YOU WANTED? vorstellen. Der Gedanke ist gar nicht mal so abwegig, ist Lanois doch ein alter Kumpel von Brian Eno, mit dem die TH einige ihrer besten Platten aufgenommen haben. Aber Lanois war Mitte der 80er eher damit beschäftigt die völlig ironiefreien und frommen Stadionrocker U2 zu produzieren. Schrecklich! Ob der genug Humor aufgebracht hätte? Wer weiß. Nur ein Gedankenspiel …

Insgesamt ist TRUE STORIES sicher keine Platte, die an die Meisterwerke der TH heranreicht. Dennoch halte ich sie für weit unterbewertet (insbesondere in Bezug auf das Vorgängeralbum) und für nicht nur hörenswert, sondern auch für eine Platte die durchaus geistreich ist und mit der man viel Spaß haben kann.

Die Gruppe Radiohead hat sich nach dem Song RADIO HEAD von TRUE STORIES benannt. Ich finde, das spricht sowohl für Radiohead als auch für TRUE STORIES. ;-)

Gute Nacht,

Friedrich

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)