Re: Talking Heads

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Wir sehen ein weißes Bild. Erst wenn die Kamera langsam zurückfährt, erkennen wir einen Fußboden, auf dem die Schatten von Wänden, dann der einer Gitarre fallen und ein Paar weiße Stoffschuhe erscheinen, denen die Kamera folgt. Publikumsjubel schwillt langsam an, wir sehen, dass die Schuhe sich offensichtlich auf eine Bühne begeben. Am Fuße eines Mikrofonständers machen sie halt, ein Ghettoblaster wird auf den Boden gestellt, eine Stimme sagt „Hi, I got a tape. I wanna play.“ Eine Hand drückt beim Ghettoblaster auf Start. Der Klang einer billigen Rhythmbox tönt aus den Lautsprechern, eine akustische Gitarre stimmt ein. Die Kamera fährt langsam von den Schuhen die Beine hoch bis wir endlich David Byrne erkennen, im hellen Anzug mit zugeknöpften Hemd gekeidet, der mit zuckenden Bewegungen PSYCHO KILLER solo spielt. So beginnt der Film STOP MAKING SENSE.

Die Kamera wechselt die Perspektive, wir sehen DB während er spielt alleine auf einer ansonsten leeren Theaterbühne herumlaufen. Die Rhythmbox hat – scheinbar – ein paar Aussetzer, DB scheint zu stolpern, fängt sich aber wieder. Im Hintergrund schieben ein paar schwarz gekleidete Roadies lautlos Podeste mit Equipment auf die Bühne. Beim zweiten Song HEAVEN wird DB von Tina Weymouth am Bass unterstützt. Für THANK YOU FOR SENDING ME ANGEL kommt Chris Frantz an den Drums dazu, bei FOUND A JOB sind die TH dann mit Jerry Harrison komplett. Nach und nach kommen noch Bernie Worrell, Alex Weir, Steve Scales und die beiden Sängerinen Lynn Mabry und Ednah Holt hinzu. Zu Beginn von BURNING DOWN THE HOUSE ruft CF ins Publikum „Who got a match?“ Von da an brodelt es auf der Bühne. Die Band ist in ständiger Bewegung und tanzt. Jedes Stück wird inszeniert. So baut sich der Auftritt nach und nach auf. Bei LIFE DURING WARTIME joggen die Musiker auf der Stelle, DB lässt sich auf den Boden fallen, rennt gehetzt immer im Kreis um die Band herum und fragt am Ende ins Publikum „Does anybody have any questions?“ Im Bühnenhintergrund werden Worte wie VIDEOGAMES / SANDWICH / DIAMOND an die Wand projeziert. Zu THIS MUST BE THE PLACE führt DB einen Tanz mit einer Stehlampe auf, während Bilder der Skyline von NYC und von Körperteilen projeziert werden. Bei GIRLFRIEND IS BETTER trägt DB einen grotesk überdimensionierten Anzug, der ihn wie eine tanzende Marionette erscheinen lässt.

DB ist offenbar auf der Bühne ganz in seinem Element, wirkt zu 200% wach und konzentriert, wechselt von Stück zu Stück die Rollen und versprüht ein mitreißendes Charisma. Schnelle Schnitte und Pespektivwechsel, aber keine Lightshow, keine Special Effects. Erst ganz zum Schluss ein paar Bilder vom tanzenden Publikum. Dennoch steigert sich die Intensität des Films im Verlauf immer weiter. STOP MAKING SENSE lässt den Zuschauer einen Auftritt der TH hautnah miterleben. Der einzige Film, den ich kenne, zu dem man tanzen kann.

Auf der DVD befindet sich als Bonus unter anderem ein Video „David Byrne interviews … David Byrne“ in dem ein DB in wechselnden Kostümen und Rollen einen im immer gleichen Big Suit gekleideten und fast regungslosen DB interviewt, z.B:

Q: „Why did you name the movie STOP MAKING SENSE?“
A: „Because it’s good advice. Music and performing don’t make sense.“
Q: „Amazing!“
A: „It’s my job.“

Q: „Why a big suit?“
A: „I wanted to make my head to appear smaller. The easiest way to do that, was to make my body appear bigger. Music is very physical. Sometimes the body understands before the head.“

Q: „We see a variety of hairdos in rockgroups these days, ha?“
A: „One must never underestimate the power of a good hairdo. I’d like to write a song about hairdos, not about the people under them.“

Manchmal antwortet DB auch nur „I’ll tell you later.“

Naiv? Ironisch? Paradox? Ich würde sagen: „I’ll tell you later.“

Die gegenüber der LP etwa doppelt so lange CD Re-Issue von STOP MAKING SENSE enthält alle Songs des Filmes und ist ebenso berauschend. Auch wenn die TH erst 1982 ein Live-Album veröffentlicht hatten, ergibt STOP MAKING SENSE (trotz des Titels, der übrigens ein Zeile aus GIRLFRIEND ist) 1984 Sinn. Die Versionen der Stücke sind teils deutlich anders, es werden viele neue Stücke gespielt und auch die teils deutlich lebahfter als die Studioversionen, und der Akzent liegt durchgehend auf Tanzbarkeit. Film und Platte werden 1984 ein Hit, in den Discos laufen PSYCHO KILLER, SLIPPERY PEOPLE und WARTIME rauf und runter.

Sicher einer der Höhepunkte im Oeuvre der TH.

Fortsetzung folgt.

F.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)