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REMAIN IN LIGHT beginnt mit dem Stück BORN UNDER PUNCHES. Ein paar Trommelschläge, ein von David Byrne hervorgestossenes „HA!“ und von da an steht der urbane Dschungel unter Hochspannung. Die ersten drei Stücke sind ein Dickicht aus perkussiven Klängen. Nicht nur Drums und Congas, sondern auch Bass, Gitarre, Keyboards, alle Instrumente werden wie Perkussioninstrumente bearbeitet und zu einem so dichten Geflecht verwoben, dass die einzelnen Instrumentalstimmen kaum noch auszumachen sind. Das ganze ist funky, treibend und hochenergetisch. Darüber lagern mehrere Schichten aus Gesangstracks. DB singt „Take a look at these hands / the hand speaks / the hand of a government man“, ein Chor singt „All I want is to breathe / won’t you breathe with me?“. Dann wird unablässig wiederholt: „And the Heat goes on / where the hand has been / and the heat goes on / where …etc.“ Das Muster bleibt bei den zwei folgenden Stücken das gleiche. Auf CROSSEYED AND PAINLESS gibt’s die herrlichen Zeilen „ Facts are simple and facts are straight / facts are lazy and facts are late / facts all come with points of view / facts don’t do what I want them to / …“ Auf THE GREAT CURVE wird das brodelnde Gebräu noch weiter erhitzt. Nona Hendryx singt mehrere sich überlagernde Chorstimmen und Adrian Belew steuert verzerrte Klangflächen auf der Gitarre bei.
Die übrigen 5 Stücke sind etwas transparenter, einfacher strukturiert und die Intensität wird zum Ende der Platte hin nach und nach zurückgenommen. ONCE IN A LIFETIME ist das bekannteste Stück von RIL und sollte neben PSYCHO KILLER so etwas wie der zweite Signature-Tune der TH werden. Über ein simples repetetives Riff singt DB: „ And you may find yourself living in a shotgun shack / and you may find yourself in another part of the world / … / and you may find yourself in a beautiful house, with a beautiful wife / and you may ask yourself – well – how did I get here?“ Er singt diese Zeilen wie ein Priester, der zu seiner Gemeinde spricht. Man erwartet eigentlich, dass er die Verwirrung auflöst und letztendlich zu dem Schluss kommt „Gott ist die Antwort!“ Stattdessen setzt ein Chor ein „Letting the days go by / let the water hold me down / letting the days go by / water flowing underground“. Es werden nicht nur musikalische Schichten übereinandergetürmt, es werden auch textliche Schichten an- und übereinandermontiert so dass sich unerwartete Bezüge und Bedeutungen ergeben (oder auch nicht …) Tatsächlich bestehen die Texte zu großen Teilen aus Floskeln, die aus ihrem ursprünglichen Zusammenhang gerissen und in einen anderen gebracht werden. „The heat goes on“ etwa ist eigentlich eine Schlagzeile über eine Hitzewelle. Musikalisch passiert etwas ähnliches: Es ist ja kaum etwas so gespielt worden, wie man es auf der fertigen Aufnahme hört. Vielmehr sind die Tracks von Eno in der „Postproduktion“ zusammenmontiert worden, so dass das Ergebnis bei der Aufnahme zunächst relativ offen bleibt.
HOUSES IN MOTION ist ähnlich strukturiert wie LIFETIME. LISTENING WIND ist ein für RIL etwas untypisches Stück, nachdenklich und erzählt relativ eindeutig von einem Afrikaner(?) der die Präsenz von Amerikanern in seinem Land mit Misstrauen betrachtet und „The wind in my heart“ herbeisehnt, „Help me to drive them away“. SEEN AND NOT SEEN ist ein Spoken Word-Stück über einen Mann der glaubt sein Gesicht mittels Willenskraft nach seinem Ideal formen zu können „This was an ability, he shared with most other people/ that’s why first impressions are often correct“ Am Ende fragt er sich aber, ob er sich in der Wahl seine Ideals nicht vielleicht geirrt hat. Da haben wir – wie auch bei LIFETIME – das Thema der Unsicherheit über die eigene Identität , das bei den TH immer wieder auftaucht.
Ein Kuriosum ist THE OVERLOAD, ein für RIL völlig ungewöhnliches Stück, das die Platte abschließt. Schleppend langam und monoton, bedrohlich schwebende dröhnende Sounds und gedehnter Gesang von DB. BE hatte den TH von einer britischen Band namens Joy Division erzählt. Die TH kennen JD nicht, aber versuchen deren Musik, wie BE sie beschreibt, zu imitieren. Sie verfehlen das Ziel um Meilen, treffen aber etwas ganz anderes. Als DB später JD hört, ist er enttäuscht.
Man kann über die musikalischen Einflüsse auf RIL spekulieren. Brian Eno hatte sich schon in den 70ern für den Afrobeat des Nigerianers Fela Kuti begeistert, in dem dieser mit riesigen Bands die Musik seiner Heimat mit Funk und Jazz verband. Dieser Einfluss ist auf RIL nicht zu überhören, trifft dort auf die Großstadtneurosen von DB und ergibt ein nervöses und brisantes Gemisch. Ich unterstelle mal, dass Eno auch seine Krautrock-Erfahrungen mit in die Produktion eingebracht hat. NEU! hatten auf ihren Platten die Tonbänder manipuliert und CAN, vor allem Holger Czuckay, hatte mit Tonbandkollagen experimentiert (was er wiederum von seinem Lehrer Stockhausen hatte), eine Technik die David Byrne und Brian Eno bei ihrer Duo-Platte MY LIFE IN THE BUSH OF GHOSTS parallel zu den Aufnahmen von RIL noch viel prominenter verwenden.
Fortsetzung folgt.
F.
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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)