Re: Talking Heads

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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MORE SONGs war von Brian Eno in den COMPASS POINT Studios auf den Bahamas aufgenommen worden. Eine sicher ungewöhnliche Wahl für eine Punk/New Wave-Band wie die TH. Aber Studiozeit auf den Bahamas war billig und BE liebte die State-of-the art-Technik des Studios. Für ihr nächstes Album wählten die TH jedoch eine ganz andere Umgebung. Die TH probten gewöhnlich im Loft von Chris Frantz und Tina Weymouth auf Long Island (die beiden hatten 1977 geheiratet), und dort nahmen sie auch FEAR OF MUSIC auf.

Was sich auf MORE SONGS mit den Funk-Einflüssen erst angedeutet hatte, tritt auf FOM offen zutage. Das erste Stück I ZIMBRA ist eine perkussiver Groove über den ein Chor Zeilen wie „Gadji beri bimba clandridi / Lauli lonni cadori gadjam/ A bim beri glassala glandride / E glassalla tuffm i zimbra“ hervorstößt. Das klingt wie ein geheimnisvolles Stammes-Ritual auf Zulu. Die Wahrheit ist aber die: Die TH hatten beim jammen einen Instrumentalgroove er-improvisiert. David Byrne leidet aber unter Schreibblockade und hat keinen Text dazu. BE gibt ihm ein Lautgedicht des Dadaisten Hugo Ball von 1916 und DB verwendet dies als Text für den Gesang. Bemerkenswert ist, das HB sein Gedicht in völlig anderem Zusammenhang vorgetragen hatte: Im Zürcher Cabaret Voltaire parodierte er damit grotesk kostümiert die Liturgie eines katholischen Priesters. Bei den TH wird daraus ein Tanz.

CITIES präsentiert einen Blick auf die Vor- und Nachteile verschiedene Städte, die der Sänger als Wohnort erwägt. Mit seinen Staccato-Funk-Gitarren und DBs nervöser Stimme klingt das Stück aber eher so, als sei der Sänger auf der Flucht, als auf der Suche nach einem Zuhause.

LIFE DURING WARTIME beschreibt das Szenario eines im Untergrund lebenden Stadt-Guerrilleiros in Manhattan. Wie auch meistens sonst, erzählt DB aus der Ich-Perspektive. Er geht dabei weder mit auch nur einem Wort auf die Ursache der Situation oder die Motivation des Guerrilleros ein, noch gibt er ein Urteil darüber ab. DB beschreibt nur dessen schwierigen, oder einfach bloß nervigen Alltag: „We dress like students / we dress like housewifes / or in a suit and a tie / I changed my hairstyle / so many times now / I don’t know what I look like / (…) / I got some groceries / some peanut butter / to last a couple of days / but I ain’t got no speakers / ain’t got no headphones / ain’t got no records no play“ und: „This ain’t no party / this ain’t no disco / this ain’t no fooling around“ Einerseits kommt das Stück hektisch und paranoid daher, andererseits mit einem eingängigen funky Riff, zu dem man tanzen kann. Die Inspiration kam DB durch den Deutschen Herbst 1977 und die Geschichte von Patty Hearst, einer amerikanischen Millionärserbin, die von Terroristen entführt worden war, sich dann aber mit ihren Entführern solidarisierte, untertauchte und mehrere Banküberfälle beging, bis man sie schnappte. Als Teenager, der sich von der Erwachsenenwelt abgrenzen wollte, konnte man sich 1979 aber auch auf eine ganz eigene Art mit dem Erzähler von WARTIME identifizieren …

Die zweite Seite (der ursprünglichen LP) ist etwas ruhiger – wenngleich DB sich auf ANIMALS von Tieren beobachtet und verspottet fühlt – aber enthält mit HEAVEN einen für FOM zwar untypischen aber herausragenden Song. Das Stück klingt wie eine träge Ballade mit einer verträumten Melodie, afterhours in einer Bar gespielt: „Everyone is trying to get to the bar / The name of the bar, the bar is called heaven / The band in heaven plays my favorite song / They play it once again, they play it all night long / Heaven is a place where nothing ever happens” Ein Ort ohne Widersprüche, ohne Konflikte, ohne Sehnsüchte, immer gleichbleibend paradiesisch und daher eigentlich furchtbar langweilig. Vielleicht ist das doch eher die Hölle?

Insgesamt klingt FOM um einiges kantiger und ruppiger als sein Vorgänger. Enos technische Produktionstricks sind weniger präsent, vermutlich war er eher als Ideen- und Impulsgeber aktiv. Dafür sind die einzelnen Instrumentalstimmen klarer auszumachen, was der Platte einen rauhen aber frischen Klang verleiht.

Fortsetzung folgt.

Friedrich

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)