Re: Talking Heads

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friedrich

Registriert seit: 28.06.2008

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Noch bevor 77 im Kasten war, tourten die TH als Vorgruppe der Ramones durch Europa. Die Reise ist nicht ganz konfliktfrei, da der Sex&Drugs&Rock’n’Roll-Lifestyle der Ramones nicht so recht mit dem der TH harmoniert, die ständig analysieren und diskutieren wollen und auch mal ein Buch zur Hand nehmen. Außerdem zehrt der Touralltag an den Nerven und David Byrne flippt das eine oder andere mal aus, sehr zum Missfallen seiner Bandkollegen.

In London kommt es aber auch zu einer folgenreichen Begegnung: Ein gewisser Brian Eno ist bei einem Gig im Publikum. Die TH erkennen ihn und sprechen ihn an. Brian Eno: Halb enfant terrible, halb verrückter Wissenschaftler der Popmusik. Wie die TH kommt er von der Kunsthochschule, spielt bei Roxy Music, arbeitet mit den Krautrockern von Neu! und Harmonia zusammen, begeistert sich für Fela Kuti und nimmt mit David Bowie in dessen Berliner Jahren die Platte LOW auf. Mit seinem väterlichen Freund, dem britischen Künstler Peter Schmidt entwickelt Eno THE OBLIQUE STRATEGIES, ein Deck von Karten, auf denen jeweils eine Anweisung geschrieben steht. Kommt man innerhalb eines Entscheidungsprozesses an einen toten Punkt, zieht man eine Karte und liest z.B.: „What would your closest friend do?“ oder „Honour the error as a hidden intention.“ oder: „Look closely at the most embarrassing details and amplify.“ DB und Jerry Harrison finden in Eno einen Geistesverwandten. Er wird die nächste TH-LP produzieren.

MORE SONGS ABOUT BUILDINGS AND FOOD ist der programmatische Titel der zweiten TH-LP von 1978. Denn genau darüber sang DB auf TH: 77, wenn auch stets aus einer ungewöhnlichen Perspektive. Die Themen sind auf MORE SONGS die gleichen, und was liegt näher, als die zweite LP als das zu benennen, was sie ist? Das Cover zeigt ein aus 529 Polaroids zusammengesetztes Gruppenportrait der TH. Auf der Rückseite ein aus 569 Fotos zusammengesetzte Satellitenbild der USA.

MORE SONGS folgt stilistisch TH: 77, ist aber aufwendiger produziert. (Übrigens: der Produzent von TH: 77 war Tony Bongiovi, der Cousin von, na wem?) BE verdichtet den Sound, hebt manches hervor, bügelt anderes glatt und setzt hier und dort seine „Treatments“ ein. DB klingt nicht mehr so sehr wie ein Vierjähriger, der im Supermarkt seine Mutter verloren hat, sondern etwas kontrollierter aber nicht weniger verstört. Einzelne Songs stechen weniger heraus, die Platte funktioniert eher als LP. Konsequenterweise gibt es nur sehr kurze Pausen zwischen den Stücken. Die Reize von MORE SONGS liegen eher im Verborgenen.

Das erste Stück THANK YOU FOR SENDING ME AN ANGEL kommt mit einem gallopierenden Rhythmus daher, irgendwie an den Tschacka-Tschacka-Sound Johnny Cashs erinnernd. Auf der CD-Wiederveröffentlichung von MORE SONGS findet sich auch tatsächlich eine COUNTRY ANGEL-Version. THE GOOD THING: „A straight line exists between me and the good thing / I have found the line and it’s direction is known to me / Absolute trust keeps me going in the right direction / Any intrusion is met with a heart full of the good thing / … / As the heart finds the good thing, the feeling is multiplied / … / Cut back the weakness, reinforce what is strong“ Das alles vorgetragen mit einer süßen Melodie in die ein Chor mit einstimmt. Ist DB ein Sektenprediger? Oder ist das kommunistische Propaganda? Sollen wir das dem Sänger wirklich abnehmen? Bei STAY HUNGRY folgt nach nur etwa einer Minute Gesang ein hypnotisch groovender Instrumentalpart, bei dem Eno kurzzeitig den einen oder anderen Aufnahme-Track hervorhebt oder mit Echo oder Hall versieht, so dass einem schwindelig werden könnte. Die TH werden funky! Ich wünsche mir beim Hören immer, das sollte ewig so weiter laufen. Nach weiteren zwei Minuten ist aber leider Schluss. TAKE ME TO THE RIVER ist die einzige aktenkundige Coverversion, die die TH aufgenommen haben. Ein Al Green-Stück, das Lust und Erlösung in einen Topf wirft. RIVER ist schleppend funky, sticht aus MORE SONGS etwas heraus und wird ein mittlerer Single-Hit. Einer meiner Lieblingssongs ist THE BIG COUNTRY. Musikalisch ein Country-Song, komplett mit Steel Guitar. DB blickt aus dem Fenster eines Flugzeugs, betrachtet das Land und beschreibt das Leben der einfachen Leute in den USA, wie man es aus Bilderbüchern kennt. Das klingt etwas naiv, aber glaubwürdig und sympathisch. Aber dann singt DB: “I wouldn’t live there if they paid me. (…) It‘ s not even worth talking about those people down there“ Meint der das ernst? Wo steht DB überhaupt? Er erklärt das ja nicht mal! In DON’T WORRY ABOUT THE GOVERNMENT hatte er doch noch den genau gegenteiligen Standpunkt eingenommen.

So allmählich kommt man dahinter: DBs Songs sind nie autobiographisch! Er nimmt wechselnde Standpunkte ein, die nicht zwangsläufig seine eigenen sind. Wo nichts ist, ist alles möglich. Und wenn man keine eigene Identität hat, kann man jede Identität annehmen. Das irririert, eröffnet aber jede Menge Möglichkeiten. Einige davon werden wir auf den folgenden Alben der TH noch kennenlernen.

Fortsetzung folgt.

Friedrich

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)