Re: Talking Heads

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friedrich

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CBGB

Im Jahr 1973 gründet Hilly Kristal einen kleinen Musikclub in Downtown Manhattan. Eigentlich beabsichtigt er im CBGB, dessen Name für „Country, Blue Grass & Blues“ steht, ebensolche Bands auftreten zu lassen. Mangels entsprechenden Angebots oder Nachfrage (?) wird das CBGB stattdessen zur Keimzelle einer neuen, heterogenen Musikszene, die man später unter dem Etikett „Punk“ oder „New Wave“ zusammenfassen wird. Die Ramones spielen hier schon 1974, Television sind bald so etwas wie die Hausband, Patti Smith tritt auf und auch eine Band namens The Stilettos, deren Sängerin Debbie Harry später mit einer anderen Band Karriere machen sollte. Die Talking Heads haben hier 1975 ihren ersten Auftritt im Vorprogamm der Ramones. Ausgerechnet!, möchte man ausrufen, denn was haben diese zwei Bands gemeinsam? Einerseits die pseudo-debilen Halbstarken, andererseits die sophisticated Kunsthochschüler. Vielleicht ist es aber gerade bezeichnend, dass zu dieser Zeit vieles Verschiedene gleichzeitig möglich ist und nicht nur toleriert, sondern sogar neugierig aufgenommen wird. David Byrne kann sich zumindest eher mit den sich selbst nicht allzu ernst nehmenden Ramones anfreunden, als mit solch an sich selber leidenden Berufs-Bohemiens wie Television oder Patti Smith.

David Byrne muss damals eine ebenso irritierende wie faszinierende Bühnenpräsenz haben: Privat schüchtern und introvertiert, verwandelt er sich auf der Bühne in eine kauzige Kreuzung aus Buddy Holly und Anthony Perkins (der aus PSYCHO …), die ihre Neurosen in Kunst umwandelt. Das trifft nicht nur einen Nerv im jugendlichen Publikum, auch der Betreiber des Labels SIRE, Seymour Stein, der auch schon die Ramones unter Vertrag hat, wird auf die TH aufmerksam und gewinnt sie nach langem Werben für sein Label. Ihre erste Single heißt LOVE -> BUILDING ON FIRE.

Über Bekannte bekommen die TH Kontakt mit Jerry Harrison, der in einer frühen Inkarnation von Jonathan Richman’s Modern Lovers gespielt hatte. Jetzt studiert er aber Architektur in Harvard. Die TH überzeugen ihn, stattdessen bei ihnen als zweiter Gitarrist und Keyborder einzusteigen und damit steht ihre endgültige Besetzung, in der sie ihre erste LP aufnehmen.

Für das Debut der TH entwirft DB ein emblematisches, heute schon klassisches Cover: Die Vorderseite vollflächig knallrot, nur am oberen Rand steht über die gesamte Breite in kursiven, grünen Lettern: TALKING HEADS: 77. Auf der Rückseite hingegen ein völlig unspektakuläres Foto der Band: Vier scheinbar ganz normale Mittzwanziger in ganz normaler Kleidung mit ganz normalen Frisuren.

Das erste Stück UH-OH LOVES COMES TO TOWN ist ein fast schon alberner, leichtfüßiger Popsong. NEW FEELING klingt mit seinen ersten Zeilen „It’s not yesterday anymore“ wie das optimistische Coming Out eines schüchternen Menschen, der über seinen eigenen Schatten springt. Erstaunlich gutmütige und optimistische Töne im Punkjahr 1977! Aber die Irritation folgt im weiteren Verlauf der Platte. Auf NO COMPASSION outet sich der Sänger als genervter Misanthrop, der seinen leidgeplagten Mitmenschen den Gang zum Theraputen nahelegt. Auf DON’T WORRY ABOUT THE GOVERNMENT ergötzt er sich widerum an seiner privaten Idylle und singt ein Loblied auf die so hart arbeitenden Staatsbediensteten. Wie bitte? Es ist 1977, die Infrastruktur von NYC liegt am Boden! Ende des Jahres kommt es sogar zum legendären, mehr als 24-stündigen Stromausfall. Meint der das ernst? Auf PSYCHO KILLER mit Tina Weymouths prägnanter, bedrohlicher Bassfigur bekommen wir einen Einblick in die Psyche einer menschlichen Zeitbombe, die jeden Moment explodieren kann und auf PULLED UP lobt er seine Eltern für die fürsorgliche Erziehung, die sie ihm angedeihen ließen, allerdings in einem Tonfall, der sich bis ins Hysterische steigert und an der Zurechnungsfähigkeit des Sängers zweifeln lässt.

Musikalisch ist 77 eine runde Sache: Im Wesentlichen voc, git, git, kb, b, dr, aber jedes Stück sparsam, aber absolut eigen und unverkennbar arrangiert und strukturiert, keine Soli, aber pointierter Einsatz von Piano, Steeldrums(!) und Sax. Auf FIRST WEEK/LAST WEEK meine ich sogar eine Marimba zu hören. Typisch sind die häufigen Themen-, Rhythmus- und Tempowechsel innerhalb der Stücke und DBs nervös und überspannt wirkender Gesang. Und die TH können grooven: Auf THE BOOK I READ gibt es z.B. eine wiederkehrende Passage, auf der DB nur noch „Nanananah-nananananananah …“ singt und die Band herrlich in Fahrt kommt.

Kommerziell war 77 ein eher bescheidener Erfolg. PSYCHO KILLER kratzte gerade mal an den unteren Bereichen der Single-Charts. Aber was soll man auch von so einer Band und deren Musik halten?

F.

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„Etwas ist da, was jenseits der Bedeutung der Worte, ihrer Form und selbst des Stils der Ausführung liegt: etwas, was direkt der Körper des Sängers ist, und mit ein- und derselben Bewegung aus der Tiefe der Stimmhöhlen, der Muskeln, der Schleimhäute, der Knorpel einem zu Ohren kommt, als wenn ein und dieselbe Haut das innere Fleisch des Ausführenden und die Musik, die er singt, überspannen würde.“ (Roland Barthes: Die Rauheit der Stimme)