Re: Birdseys Rezensionen

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dominick-birdsey
Birdcore

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Die Liebesblödigkeit | Wilhelm Genazino
(Hanser. 2005)

“Ich kann die dauerhafte Liebe zu zwei Frauen nur empfehlen. Sie wirkt wie eine wunderbare Doppelverankerung in der Welt. Man wird mit Liebe gemästet, und das ist genau das, was ich brauche.“

Der Ich-Erzähler in dem neuen Roman des Büchner-Preisträgers Wilhelm Genazino, „Die Liebesblödigkeit“, lebt zufrieden in einer Ménage à trois. Das fortschreitende Alter (er ist 52) veranlasst den (beruflichen) Zivilisationsapokalyptiker über seine Situation nachzudenken
[INDENT]“Es gibt jemanden, mit dem ich abrechnen muss, und das bin ich selbst. Mich plagt das Gefühl, dass ich rasch altere und meine Verhältnisse klären muss. Damit meine ich meine Liebesverhältnisse.“
und sich für eine der beiden Frauen zu entscheiden: Sandra (42), die für Sicherheit steht, die ihm einen Heiratsantrag macht und die sich ihm zu Liebe auf eine Kiste zwischen den Türrahmen stellt, damit er besser von hinten in sie eindringen kann (um dabei seine Knie zu schonen); Judith (51), Pianstin und Klavierlehrerin, die für das Kulturelle steht, für Unabhängigkeit und für Sex im Freien. Einhergehend mit genazinotypischen Alltagsbeobachtungen wie z.B. Altersphänomenen (Krampfadern, zuckende Augenlider, Ekzeme an der Hand, bräunlich-rötlicher oder schaumig-weißer Urin) wird nun das Pro und Contra beider Lebenssituationen erörtert bzw. ausgelotet. Dabei ist es vor allem die Sprache Genazinos, seine (beinahe berhardesken) Neologismen und Komposita, die kleine Anekdoten zu unvergessenen Bildern geraten lässt. Witzig, ironisch, intelligent. Die Figuren, wie dem Postfeind, dem Empörten-Beauftragten, der Staub-Forscherin, dem Ekel-Professor, wie der Ex-Frau des Ich-Erzählers, die die absurdesten Ideen entwickelt, um Geld zu verdienen, vermag er mit wenig Worten so plastisch zu charakterisieren wie kaum ein anderer deutscher Schriftsteller derzeit. Doch steckt hinter der vorgeschobenen Komik und der vorgeschobenen Handlung immer auch Gesellschaftskritik, die am deutlichsten bei den Seminarvorbereitungen und beim Seminar in der Schweiz sichtbar wird. Das Leiden der Welt und das Leiden an der Welt. Melancholisch, zynisch, weise.
Also wieder alles richtig gemacht? Nicht ganz: „Die Liebesblödigkeit“ ist aus der Sicht eines Mannes auf einen Mann geschrieben. Die zahlreichen Sexszenen, die Alterssex und Alltagssex mit geradezu „ekelhafter“ Präzision beschreiben, scheinen in den Vordergrund, ja sogar als Entscheidungshilfe für eine der beiden Frauen, zu rücken, die eigentliche Auflösung und tatsächliche Entscheidung (die hier nicht verraten wird) gerät zu kurz und kaum nachvollziehbar. Die Rückblicke auf das Familienleben, den furzenden Vater und die Mutter, deren Fensterputzen er als den „Gipfel der Lebensleere“ diagnostiziert, sind zwar amüsant erzählt, wirken aber deplaziert. Schließlich ist der Ich-Erzähler selbst alles andere als eine sympathische Figur: Ein Besserwisser, der mit Halbwissen prahlt, selten Verantwortung für sich oder andere übernimmt und letztlich seine Situation und – hauptsächlich damit konnotiert – die beiden geliebten Frauen ausnutzt. Eine Identifikation will da gar nicht gelingen. Aber man darf mich in zwanzig Jahren noch einmal an diesen Satz erinnern.
Zu hoffen bleibt, dass Genazino nicht von „wirrer Schweigelust“ befallen wird und deswegen „öffentliche Belanglosigkeit“ erleiden muss, sondern uns weiterhin so komische und geistreiche Roman vorlegt.

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