Re: Birdseys Rezensionen

#4632397  | PERMALINK

dominick-birdsey
Birdcore

Registriert seit: 23.12.2002

Beiträge: 14,848


Ich habe den englischen König bedient | Bohumil Hrabal
(Suhrkamp. 1990)

“So wurde das Unglaubliche Wirklichkeit, und ich musste mich in Eger einer Untersuchung beim Obersten Gericht unterziehen, vor einem Richter und einem Arzt der Waffen-SS, und in einem Ersuchen, das ich schriftlich eingereicht und in dem ich meine ganze Familie bis zurück zu dem Friedhof in Cvikov, dort, wo Opa Johann Ditie lag, aufgeführt hatte, bat ich unter Berufung auf seine arische und germanische Herkunft ehrerbietig, mit Lisa Elisabeth Papanek, die Ehe eingehen zu dürfen, und beantragte entsprechend den Gesetzen des Reiches, in physischer Hinsicht untersucht zu werden, ob ich nach Maßgabe der Nürnberger Gesetze als Angehöriger einer anderen Nationalität auch befähigt sei, nicht nur den Beischlaf auszuüben, sondern auch arisch-germanisches Blut zu befruchten.“

Passen Sie auf oder geben Sie acht. So beginnen die fünf Kapitel des Ich-Erzählers auf seinem Weg vom Pikkolo – vom Kellner – zum Millionär und Hotelbesitzer: einem naiven, aber durchaus scharfsinnigen Kleinwüchsigen, dem wiederholt „das Unglaubliche Wirklichkeit“ wird. Der Weg dorthin und darüber hinaus ist lang. Der namenlose wie auch alterslose Protagonist, der sich später während der NS-Zeit aufgrund seines Großvaters den Namen Ditie gibt, ist zunächst ein Opportunist, der sich daran hält, was ihm der Chef des Hotels „Goldenes Prag“ anfangs lehrte:
[INDENT]Als ich ins Hotel Goldenes Prag kam, nahm mich der Chef am linken Ohr und zog daran und sagte: Du bist hier Pikkolo, merk Dir das. Du hast nichts gesehen, nichts gehört. Sprichs mir nach. Und so sagte ich, ich hätte im Hause nichts gesehen und nichts gehört. Und der Chef zog mich am rechten Ohr und sagte: Und merk Dir aber auch, dass Du alles sehen und alles hören musst. Sprichs mir nach. Ich wiederholte verwundert, das ich alles sehen und alles hören wolle, und so fing alles an.
Zwar muss er auf seinem Weg manche Rückschläge einstecken, aber sein Ziel, Millionär zu werden, verliert er niemals aus den Augen. Behilflich seinen Beruf zu erlernen und zu perfektionieren, sind ihm verschieden Oberkellner, wie Zdenek, der großzügig sein ganzes Geld unter die Leute bringt oder der allwissende Skrivanek, der sogar den englischen König bedient hat. Höhepunkt aber in der Karriere des Kellners ist der Tag, an dem er den abessinischen Kaiser, Haile Selassi, bedienen darf. Im weiteren Verlauf wird der Ich-Erzähler seine Sokolbewegung zugunsten einer Sudetendeutschen verraten und sich den deutschen Besatzern anbiedern. Nachdem er zunächst in einem Lebensborn-Heim kellnert, zeugt er dort nach seiner Arisierung und Hochzeit seinen Sohn Siegfried. Mit einer Briefmarkensammlung, die seine Frau wahrscheinlich von deportierten Juden entwendet hatte, kann sich der Ich-Erzähler letztlich seinen Traum erfüllen und selbst Hotelier werden. Aber auch das wird ihn nicht glücklich machen. Erst in der Einöde als Straßenarbeiter findet er seinen Seelenfrieden.

Hrabals Sprache ist simpel und schnörkellos, dennoch schafft er großartige Bilder und nachhaltige Metaphern. Dass der Ich-Erzähler selbst ein Sonderling ist wird ihm selbst nach und nach bewusst. Und so ändert sich mit der Reflexion über sein Leben und den daraus resultierenden Erkenntnissen auch die Erzählsprache vom Umgangssprachlichen bis hin zum Philosophischen:
[INDENT][…] erst jetzt kam ich dahinter, was gesetzmäßig die Ursache dafür war: die Möglichkeit nämlich, dass sich zwei Menschen nie mehr wiedersehen könnten… ja, diese Möglichkeit machte diese Menschen zu schönen Menschen, das war der neue Mensch, nicht der siegesbewusste und heiser gebrüllte und hochfahrende, sondern im Gegenteil: der demütige und nachdenkliche Mensch mit den schönen Augen eines verschreckten Tierchens…
Nicht selten liegt die Spannung der kleinen Episoden, die der Ich-Erzähler erlebt, an der Skurrilität der Charaktere und Personen, die ihm begegnen: vom fetten Hotelier mit Trillerpfeife, über einen Professor für Literatur und Ästhetik, „der sich im Schimpfen geradezu überbot“, bis hin zu einem Diener, der einen Kater brutal hinrichtet, weil er seiner Katze nachstellte. Ebenfalls entpuppt sich Hrabal als meisterhafter Schriftsteller, wenn es um die Erzählung erotischer Szenen geht. Ist es eine Komödie oder ist es eine Tragödie, fragte einst Thomas Bernhard. Auf Hrabals Roman trifft beides zu: Komik setzt er subtil und sensibel ein, selbst in den tragischsten Situation.
Leider wird die plötzlich auftretende Sympathie des Ich-Erzählers für die Deutschen lapidar in einem Satz abgehandelt und bleibt letztlich nicht ganz nachvollziehbar, was der Erzählung aber weder Reiz noch die Spannung raubt.

So gelingt Hrabal, dass auch bei ihm das Unglaubliche Wirklichkeit wird: „Ich bediente den englischen König“ ist ein großartiger (Schelmen-) Roman mit einem Protagonisten in der Tradition von Hašeks (allerdings ohne dessen Sarkasmus) Schwejk, humorvoll und hintergründig, poetisch und possenhaft, teilweise autobiographisch, spannend und ja, sexy. Genügt das?

(Der Roman wird derzeit von Hrabals Freund Jirí Menzel in Prag verfilmt.)

--