Re: Birdseys Rezensionen

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dominick-birdsey
Birdcore

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Die Glasglocke | Sylvia Plath
(Suhrkamp. 2005)

“Für ein Mädchen, das fünfzehn Jahre lang immer nur glatte A’s nach Hause gebracht hatte, schien das ein trostloses Leben zu sein, aber ich wusste, so war es, wenn man heiratete, denn Kochen und Putzen und Waschen war genau das, was Buddy Willards Mutter von morgens bis abends tat, und sie war mit einem Universitätsprofessor verheiratet und war selbst Lehrerin an einer Privatschule gewesen.“

Literatur muss immer im Kontext der Zeit betrachtet werden, in der sie geschrieben wurde. So zum Beispiel lässt sich der Nachahmungseffekt auf Werthers Suizid nachvollziehen. Sylvia Plaths Roman „Die Glasglocke“ wurde im Jahr 1963 veröffentlich, also in dem Jahr, als sie Selbstmord beging. Der Roman spielt knapp zehn Jahre vorher, in den fünfziger Jahren, in den USA. Esther Greenwood hat ein Stipendium bei einer New Yorker Modezeitung gewonnen. Schnell scheint sie den Reizen der Stadt – in Form von Partys und Männerbekanntschaften – zu erliegen, doch in Wirklichkeit beginnt bereits hier eine tiefe Depression sich wie eine Glasglocke über ihr Leben zu wölben. Dieser erste Teil des Romans zeigt eine (sogar aus heutiger Sicht noch) sehr emanzipatorische Einstellung einer jungen Frau, die eben nicht wie ein petticoattragendes Heimchen im Schatten ihres Ehemannes verkümmern (und ihm „dienstbar“ sein) möchte, sondern sich gegen herrschende Konventionen und Konformismen stellt. Der zweite Teil des Romans beschreibt den pathologischen Verlauf einer sich stetig verschlimmernden Depression, mit dem Selbstmordversuch Esthers und den Möglichkeiten damaliger Heilungsmethoden. Durch die detaillierte Darstellung der Krankheit wird auch der autobiographische Charakter des Romans augenscheinlich: wie auch ihre Protagonistin versuchte Sylvia Plath selbst sich mittels Schlaftabletten umzubringen. Sie versteckt sich im Keller, wo sie aber noch rechtzeitig gefunden wird. Dies war einer der Gründe, warum der Roman erst unter einem Pseudonym veröffentlicht wurde (auch Goethe veröffentlichte seinen Werther zuerst anonym). Das Ende des Romans, die vermeintliche Heilung der Krankheit (das Öffnen ihrer Glasglocke) und die Entscheidung der Ärztekommission darüber, dass sie die Nervenheilanstalt verlassen kann, muten rückblickend wie ein Treppenwitz der Geschichte an: Sylvia Plath brachte sich kurz nach der Veröffentlichung des Romans um. Plaths Sprache ist simpel und sowohl metaphorisch (ihr Leben in New York kommt ihr vor wie ein verästelter Feigenbaum) und ironisch/sarkastisch als auch präzise und trocken. Im Suhrkamp Verlag erschien „Die Glasglocke“ in der Reihe der Jahrhundertromane. Und das völlig zu recht.

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