Re: Birdseys Rezensionen

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dominick-birdsey
Birdcore

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Die Klavierspielerin | Elfriede Jelinek
(Rowohlt. 1983)

„Die Lichter tappen kurz mit den Fingern nach Erika, finden keinen Halt, wischen ihr fahrig übers Haar, das mit einem Seidentuch zugedeckt ist, rutschen ab, ziehen eine bedauernde nasse Farbspur ihren Mantel entlang und fallen dann hinter ihr zu Boden, wo sie im Schmutz sterben.“

Elfriede Jelineks Roman ist die Charakterstudie einer Professorin am Wiener Konservatorium für Musik. Der Focus liegt insbesondere auf der Beziehung Erikas, der Klavierspielerin, zum „Inquisitor und Erschießungskommando in einer Person, in Staat und Familie einstimmig als Mutter anerkannt“. Dieses Verhältnis ist ein außergewöhnliches (und angedeutet inzestuöses), teilen doch Mutter und Tochter nicht nur die Wohnung sondern auch das Bett miteinander. Erika hat zwar ein eigenes Zimmer, doch fehlt der Tür ein Schloss, denn „kein Kind hat Geheimnisse“. Wie bereits Ester Greenwood in Sylvia Plaths Roman bleibt die Klavierspielerin Zeit ihres Lebens unter einer „Glasglocke“ gefangen. Der Überwachung ihrer Mutter kann sich Erika nur selten entziehen: „Sie weiß, diese mütterliche Umschlingung wird sie restlos auffressen und verdauen, und doch wird sie von ihr magisch angezogen.“ Und weil sie es nicht zur großen Klaviervirtuosin geschafft hat, verdient Erika jetzt das (gemeinsame) Geld als Lehrerin. Selbst also die Kunst kann sie nicht mehr trösten, im Gegenteil, manchmal „schafft sie [die Kunst] allerdings das Leid erst herbei“. Gefühle lässt Erika nicht an sich heran, die Liebe (auch die körperliche) war für sie bisher nur mit Enttäuschungen verbunden, so dass ihr Ich nur ein „bodenlose Gefäß“ bildet. „Sie ist nichts. Und nichts gibt es mehr für sie“. Weder der Ausbruch in eine Peepshow, noch das nächtliche Spannen am Prater sind für Erikas Lustgewinn förderlich. Einzig Selbstbestrafung in Form von Selbstverstümmelung durch Rasierklingen scheinen für Erika Mittel zum Zweck. Und so setzt sie ihre Hoffnung auf einen zehn Jahre jüngeren Schüler: Walter Klemmer. Dieser würde selbst gerne die ältere Klavierlehrerin in seine Frauen-Trophäensammlung einreihen. Auf diese von vornherein zum Scheitern verurteilte Liebesbeziehung liegt ein weiterer Schwerpunkt des Romans, der aber letztlich nicht (wie in der Verfilmung von Michael Haneke zu sehen) das Hauptaugenmerk sein will.
Das Ende soll hier nicht verraten werden, nur soviel, dass der Leser sich wie auch in anderen Romanen Jelineks mit (äußerster) Gewalt konfrontiert sieht. „Die Klavierspielerin“ ist eine sprachliche Metaphernkanonade, die in der Nachkriegsliteratur sicherlich Ihresgleichen sucht. Selten wurde eine Charakterisierung einer einzigen Figur mit einer derartigen Wucht an Sprache beschrieben, ein Buch so derart hervorragend bis in die kleinsten Details durchkomponiert- und strukturiert, wie es Jelinek hier gelingt. Das beginnt mit einem Perspektivwechsel, der durch Anonymisierung das Aufheben des mütterlichen Einflusses in der Außenwelt (also außerhalb der gemeinsamen Wohnung) verdeutlicht, über die Desavouierung herrschender Klischees mittels Sprache und auch ihrer Übertreibung, bis hin zu Jelineks wunderbarem (österreichischen) Humor. Eingebettet in sowohl literarische (Bernhard, Plath, Kafka etc.) als auch musikalische Intertextualität (Schubert, Schumann, Bach, Beethoven). Niemals driften die Allegorien und Metaphern ins Banale, niemals wird es zur Phrase oder Plattitüde. Auch wenn mitunter das Gefühl entsteht, dass Jelinek sich ihres Könnens (zu selbst-)sicher ist und sie sich lieber an ihrer eigenen Sprache ergötzt als die Handlung des Romans voranzutreiben, möchte man keinen einzigen Satz, kein einziges Wort missen. Einer der lesenswertesten und mehr als empfehlenswertesten Romane, der allein den Nobelpreis verdient gehabt hätte.

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