Re: Birdseys Rezensionen

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dominick-birdsey
Birdcore

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Die Geschichte der Liebe | Nicole Krauss
(Rowohlt. 2005)


“Einmal verpasste ich sechs Züge, weil ich nicht herausbekam, wie man nach dem Fahrschein fragt. Ein anderer wäre vielleicht einfach eingestiegen. Aber nicht ein Jude aus Polen, der deportiert zu werden fürchtet, wenn er auch nur vergisst, die Klospülung zu ziehen.“

„Die Geschichte der Liebe“ ist ein Buch im Buch. Leo Gursky hat es vor Jahrzehnten in Polen für seine große Liebe geschrieben. In Kriegszeiten hat er es einem Freund zur Aufbewahrung gegeben, der es aber später durch eine Art geistigen Diebstahl missbrauchte, um die Liebe und Gunst einer Frau für sich zu gewinnen. Die Geschichte des Buches und verschiedener Personen, die es gelesen haben und die es berührt hat, wird hier erzählt. Hauptsächlich bezogen auf den mittlerweile achtzigjährigen Autor desselben, Leo Gursky, und des jungen vierzehnjährigen Backfisches Alma, die ihren Namen aufgrund eben dieses Buches erhalten hat. Ihre Suche nach dem Urheber der „Geschichte der Liebe“ wird mit der Biographie Leo Gurskys eng verwoben. Was anfangs noch unbekümmert und unbeschwert erzählt einen Spannungsbogen aufbaut, fällt jedoch am Ende des Romans der gewollten und zu gekünstelten Konstruktion zum Opfer. Als ob Nicole Krauss selbst nicht wusste, wie sich ihr Roman entwickeln würde, scheint sie während des Schreibens plötzlich von der Idee besessen gewesen zu sein, ein plausibler Plot müsse die Handlungsstränge zusammenführen und abrunden. Nicole Krauss will zuviel und das ist ein weiteres Manko. Getrost hätte sie das Figurenpersonal reduzieren und auf Geschichten verzichten können, ja, müssen. Gleichwohl muss man der Autorin zu Gute halten, gelingt es ihr, wunderbare Charaktere zu entwerfen. Glaubhaft und mitunter wunderbar komisch schildert sie die Marotten des alten polnischen Protagonisten, so dass es leicht fällt sich in die Figur reinzuversetzen. Die Gegenüberstellung eines lebensmüden und vom Leben gezeichneten Überlebenden des Holocausts mit den alltäglichen Kleinigkeiten und Banalitäten, wie der Kauf von Turnschuhen oder das Fallenlassen von Münzen in einem Geschäft, stellt ebenfalls einen Reiz dieses Buch dar. Auch Alma und ihr jüngerer (autistisch wirkender) Bruder sind liebevoll gezeichnete Figuren. Ebenfalls sehr gelungen sind Krauss‘ Ideen, die sich in der Rückübersetzung der „Geschichte der Liebe“ widerspiegeln. Sprachlich immer niveauvoll, nuanciert, pointiert und sehr gewitzt. Ein Buch, in dem die Chronologie nicht eingehalten wird und zu viele Figuren den (Spannungs-)Bogen überspannen, erfordert vom Leser oft hohe Konzentration. Letztlich aber wird er dafür mit einer vielschichtigen, manchmal melancholischen, teils ironischen Erzählung belohnt.

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