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Anonym
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LOU REED – NEW YORK (Sire, 1989)
Seite 1:
Romeo Had Juliette
Halloween Parade
Dirty Blvd.
Endless Cycle
There Is No Time
Last Great American Whale
Beginning Of A Great Adventure
Seite 2:
Busload Of Faith
Sick Of You
Hold On
Good Evening Mr. Waldheim
Xmas in February
Strawman
Dime Store Mystery
„This album was recorded in and mixed at Media Sound, Studio B, N.Y.C., in essentially the order you have here. It’s meant to be listened to in one 58 minute (14 songs!) sitting as though it were a book or a movie.“
(Lou Reed in den Linernotes zu NEW YORK.)
Meine ersten Begegnungen mit Lou Reed blieben weitgehend fruchtlos, was wohl zum Teil an mir und meinen eher durchschnittlichen Englischkenntnissen lag, zum anderen aber auch an den Ansprüchen, die Lou Reed speziell mit seinen Alben ab New York“ an seine Zuhörer stellt. Viele Referenzen an jugendliche Drogendealer, Transvestiten, geschlagene Frauen, verlogenen Prediger, Politiker, Personen des öffentlichen Lebens und Andeutungen unterschiedlicher Couleur sind für europäischen Jugendliche im Alter von fünfzehn Jahren einfach kaum zu verstehen und Reed selbst hatte ja bereits mehrfach darauf hingewiesen, dass er Musik für adults mache und von Jungspunden wie ich es damals war, gar nicht verstanden werden wolle. Ich gab also bereits nach dem bildgewaltigen, mich gnadenlos überfordernden Opener Romeo Had Juliette auf und ließ Reed knappe zehn Jahre links liegen. Erst mit Erscheinen des Albums „Set the Twilight Reeling“ wurde ich erstmals wieder hellhörig und entwickelte einen kleinen Faible für Reed, der sich im letzten Jahr fast zu einer ausgewachsenen Besessenheit entwickelte…
Auf den ersten flüchtigen Blick scheint das Cover von New York ein typisches Bandfoto darzustellen: Fünf wenig vertrauenserweckende Typen vor einer tristen New Yorker Hauswand. Das alte Klischee eben, business as usual. Erst bei genauerer Betrachtung stellt man fest, dass es sich bei allen fünf abgebildeten Personen um ein und dieselbe Person handelt: Lou Reed selbst – in unterschiedlichen Outfits und Posen. Und schon schwirren einem die alten Geschichten über das egomane Arschloch, den selbstherrlichen Journalistenschreck durch den Kopf und scheinen sich erneut durch die offensichtlich selbstverliebte, multiple Darstellung seiner Person zu bewahrheiten. Klar, Reed sieht sich mal wieder als zentrale Figur und ist nicht bereit, das Scheinwerferlicht mit maßgeblichen und stilbildenden Bandmitgliedern wie etwa dem Gitarristen Mike Rathke zu teilen. Natürlich hat Reed einiges für diesen Ruf getan und viele der kursierenden Geschichten über den Tränen nahen Interviewpartnern sind sicherlich nicht ohne wahren Kern, aber in diesem Fall will ich es mit einer positiveren Herangehensweise versuchen, denn New York stellt einen bemerkenswerten Richtungswechsel in Reeds Karriere dar. Oder besser gesagt: Lou Reed schlägt erstmals seit Jahren (mit neuem Label und teilweise neuer Band) überhaupt eine Richtung ein und liefert als überzeugendes Ergebnis sein bestes Album ab, das zugleich auch sein kommerziell erfolgreichstes seit Sally Can’t Dance wurde. Wer behauptet, er hätte nach dem schwachen Vorgänger Mistrial mit einer Meisterleistung wie New York gerechnet, ist entweder Hellseher oder ein Lügner. Höchst spartanisch, aber treffsicher und gnadenlos in seinen Bestandsaufnahmen beschreibt Reed auf New York die Situation seiner Heimatstadt. Hin und wieder reminiszierend, nie glorifizierend, manchmal zerbrechlich und fast immer mit an Horror grenzendem Realitätssinn zeichnet er ein besonders durch seinen Nachrichtencharacter unbequemes Bild der Gegenwart und Zukunft, das, wie in dem Text zu Sick Of You, als eine Art Drahtseilakt zwischen Kunst und kühler Berichterstattung erscheint:
„I was up in the morning with the tv blarin‘ / Brush my teeth sittin‘ watchin‘ the news / All the beaches were closed the ocean was a red sea / But there was no one there to part in two / There was no fresh salad because there’s hypos in the cabbage / Staten island disappeared at noon / And they say the midwest is in great distress / And NASA blew up the moon“
War die dunkle Seite (oft bohemienhafter und gleichzeitig weltfremder) Exzesse zuvor ein herrschendes Thema in Reeds Texten, so scheint er mit New York in der noch tristeren Realität der Gegenwart angekommen zu sein. Besonders beeindruckend sind in dieser Hinsicht die Texte von Dirty Blvd. und Halloween Parade. Ersterer handelt von Pedro, einem armen Jungen mit neun Geschwistern, der zu müde zum Betteln ist und darum von seinem Vater geschlagen wird. Hier illustriert Reed die selbst in schlechten Zeiten funktionierende Klassengesellschaft der USA, denn wenn es allen schlecht geht, heisst das noch lange nicht, dass es allen gleichermaßen schlecht geht und so träumt Pedro auch nicht davon irgendwann Arzt oder Anwalt zu werden, sondern seinen Vater eines Tages zu töten und es als Dealer auf den Dirty Blvd. zu schaffen. Ein ebenso zynisch wie vermutlich realistischer Text:
„Give me your hungry, your tired your poor I’ll piss on ‚em / that’s what the Statue of Bigotry says / Your poor huddled masses, let’s club ‚em to death / and get it over with and just dump ‚em on the boulevard.“
Halloween Parade, dagegen ist der wohl bewegenste und zerbrechlichste Song des Albums, der vor der Szenerie der alljährlichen Halloween Parade im New Yorker Greenwich Village an die über die Jahre (durch die Krankheit Aids) verlorenen Freunde und Weggefährten erinnert. Der Dialog zwischen Text und Musik ist hier dermaßen treffend und berührend, dass Halloween Parade mein mit Abstand liebster Reed-Song ist, was nicht zuletzt an der bewegenden Fragilität in Reeds Gesang liegt, dem offensichtlich ehrliche Trauer innewohnt:
„This celebration somehow get me down / Especially when I see you’re not around / There’s no Peter Pedantic saying things romantic / In Latin, Greek or Spic / There’s no Three bananas or Brandy Alexander / Dishing all their tricks / It’s a different feeling that I have today / Especially when I know you’ve gone away.“
Interessant ist auch der, neben dem Weckruf There Is No Time, wohl politischste Song des Albums, Good Evening, Mr. Waldheim, in dem er nicht nur dem ehemaligen österreichischen Bundepräsidenten und Generalsekretär der Vereinten Nationen Kurt Josef Waldheim und dem damaligen Papst, sondern auch dem Bürgerrechtler Jesse Jackson aufgrund seiner Nähe zu Louis B. Farrakhan und dem angeblich von ihm gebrauchten Ausdruck Limeytown, eine antisemitische Haltung vorwirft:
„Good evening Mr.Waldheim / and Pontiff how are you? / You have so much in common / in the things you do / And here comes Jesse Jackson / he talks of Common Ground / Does that Common Ground include me /or is it just a sound / A sound that shakes / Oh Jesse, you must watch the sounds you make / A sound that quakes / There are fears that still reverberate / Jesse you say Common Ground / does that include the PLO ? / What about people right here right now / who fought for you not so long ago? / The words that flow so freely / falling dancing from your lips / I hope that you don’t cheapen them / with a racist slip.“
Ich könnte noch auf viele weitere grandiose Lyrics eingehen, denn das Album, das man wohl als Konzeptalbum bezeichnen muss, ist reich daran und Aussetzer oder schlampige Passagen sind einfach nicht existent. Wie schon erwähnt, ist New York in meinen Augen Lou Reeds Meisterwerk. Ich kenne wenige Alben, bei denen die Musik und die Texte eine derart perfekte Symbiose bieten. Alles auf New York ist von scheidender Schärfe und Präzision, ohne dabei unterkühlt oder distanziert zu wirken. Um auf das Cover zurückzukommen: Ich sehe die fünf unterschiedlichen Darstellungen Reeds als Symbol für seine zahlreichen Häutungen, seine ziellosen Richtungswechsel und gleichzeitig als den Beginn eines neuen Kapitels in seiner künstlerischen Laufbahn. Das mag Unsinn sein, wird aber zumindest dem Inhalt und der Intention dieses Albums gerecht. Anthony de Curtis rezensierte das Album 1989 für den Rolling Stone uns schloß seine mehr als wohlwollende Kritik mit den folgenden (auch heute noch treffenden) Worten:
„New York is indisputably the most ambitious album of Lou Reed’s solo career. If it’s not indisputably the best, that’s only because it’s so much of a piece that no songs leap out as classics, as so many of his songs have in the past. Also, the album is so compelling an expression of the historical moment that it’s hard to tell what it will sound like down the line. What’s clear is that in whatever future there is, whenever anyone wants to hear the sound of the Eighties collapsing into the Nineties in the city of dreams, New York is where they’ll have to go.“
Was hätte Lester wohl zu „New York“ gesagt?
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