Re: John Coltrane

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gypsy-tail-wind
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Zu Harmonie und Melodie: nein, das eine lässt sich nicht zwingend aus dem anderen ableiten. Aber die harmonische Struktur gibt Vorgaben, an die man sich beim Solieren zu halten hat. Ändert man die Struktur, so ändern isch die Regeln – einen Bezug gibt es dabei immer, aber keinen direkt kausalen oder so.

Akademisch, ja… das klingt jetzt stark danach, aber das ist natürlich nur die halbe Wahrheit, denn all das ist ja immer nur ein Mittel, das hilft, zu erreichen, was denn erreicht werden will. Die Verdichtung und Schichtung von Akkorden war seit dem Bebop im Jazz gang und gäbe, das hat wohl mehr mit Spielerei und Insider-Wissen zu tun als mit eigentlicher Akademik. Falls Du ein Real Book hast, schau Dir doch mal ein paar der Stücke an, die Wayne Shorter für Miles sogenanntes „second quintet“ geschrieben hat. Das ist ja eigentlich (so liest man) oft oder vor allem modaler Jazz, aber schau Dir mal die ungewöhnlichen Akkorde an, die da auftauchen…

Wie gesagt, das mag akademisch klingen, teilweise akademisch sein… aber es hängt viel mehr zusammen mit der Suche nach neuen Ausdrucksformen. Zudem muss man wissen, dass Coltrane zeitlebens wie ein irrer geübt hat – wohl eben seine schnellen Läufe, Patterns, die seinen auf ver-rückten Akkorden und Skalen beruhten etc.

Und nochmal zum „Widerspruch“ zwischen modalem Jazz und harmonischer Verdichtung: Im Kern geht es beim Aufbrechen der Funktionsharmonik darum, den Freiraum zu vergrössern oder erst zu schaffen, der es dann eben erlaubt, sehr viel mehr spielen zu können (also: andere Skalen, Akkorde, die über einem funktionsharmonischen Fundament unpassend und falsch geklungen hätten) – es ging ja z.B. bei „So What“ nicht darum, nur noch D und Eb dorisch zu spielen, sonst wären die Soli wohl nach ca. vier Takten alle schon vorbei ;-) (wobei übrigens die dorische Tonleiter irgendwo zwischen Moll und Pentatonik steht und aus dem Blues sowieso vertraut war – so wahnsinning neu war daran nichts, das neue war eben die Reduktion… die gab es im Blues ja auch bereits, im alten Blues sowieso, aber hier geht es ja um urbane, hippe Musik)

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