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Anonym
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Ob der „Leiermann“ typisch für Schubert sei, das fällt mir schwer zu sagen. Es ist kein Lied, das Schubert isoliert geschrieben hat – und das hätte er wohl auch nicht -, sondern ist der Abschluss aus der „Winterreise“, der Abschluss eines Zyklus von Liedern, einer Zusammenfassung eines Lebens. Es steht also nicht für sich allein, jedenfalls nicht zu Schuberts Zeiten, heute könnte man auch diese sehr streng reduzierten Töne als einzelnes Lied veröffentlichen. Wovon die Bearbeitungen für Violine und Orchester zeugen. Da wird aus den knappen drei Minuten gleich eine Viertelstunde.
Aber das wolltest Du nicht wissen. Für den späten Schubert – so früh er gestorben ist – ist der „Leiermann“ eher charakteristisch. Er hat eine große Zahl an Liedern geschrieben, die meisten außerhalb von Zyklen (neben der „Winterreise“ noch „Die Schöne Müllerin“, beim „Schwanengesang“ streitet man sich, so weit ich weiß), sehr unterschiedlich, so verschieden die Gedichtvorlagen, so verschieden die Musik Schuberts. Es gibt viele andere Lieder von Schubert, die sich anders ausnehmen und doch oft zueinanderzugehören scheinen: selbst das „Heidenröslein“ und der „Erlkönig“. Der „Leiermann“ ist eine Art Zusammenfassung dieser Spannungen. Und es gibt viele gute Aufnahmen der „Winterreise“ für ein paar Groschen.
Und auch, ob es andere Kompositionen in der Art des „Leiermanns“ gibt, ist nicht so leicht zu sagen. Schubert ist den klassischen Formen, wenn auch verzweifelt, verpflichtet. Das heißt, er sagt nicht alles auf einmal oder vielmehr, er braucht in Streichquartetten oder Klaviersonaten, geschweige den späteren Symphonien, Zeit. Und genau darin findest Du auch die Entsprechungen zu diesem vorwärtsdrängenden Zögern des „Leiermanns“. Oft brüsk und gedrängt in den Kopfsätzen, manisch zugespitzt in den Scherzi oder Trio-Passagen, vermeintlich idyllisch in den langsamen Sätzen, sich überschlagend in den Schlusssätzen. Bei den Werken ohne Stimme. In der „Winterreise“ ist das anders, weil die Form ihm mehr Raum lässt oder er ihn darin eher gefundet hat. Also probiere es doch einmal mit der vollständigen „Winterreise“. Oder mit „Nacht und Träume“. Oder „Du bist die Ruh'“.
Was hat Dich denn an dem „Leiermann“ aufmerksam werden lassen?
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