Re: Industrial

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bender-rodriguez

Registriert seit: 07.09.2005

Beiträge: 4,310

Sonic JuiceHabe nach einem passenden Ort gesucht, um den (nicht nur) für interessierte Einsteiger lesenswerten FAZ-Artikel zu Throbbing Gristle zu posten. Da ich weder zu TG noch zu Industrial im Forum etwas gefunden habe, wohlan: ein neuer Thread!

Ich stelle mir hier eine Erörterung der ganzen stilistischen und chronologischen Bandbreite vor, von Throbbing Gristle über Einstürzende Neubauten bis Ministry (das sind jedenfalls die Namen, die mir Uneingeweihtem dazu einfallen). Und Nine Inch Nails haben ja schon ihr eigenes kühles Plätzchen…

Außerdem kann Bender ja, wenn er Lust hat, hier mal seine lang erwartete, von vielen heißbegehrte, bereits mythenumrankte Industrial-Kompi näher erläutern (und seine eigene Computermusik, will man dem Toto-Thread glauben schenken ;-)).

Zunächst einmal Respekt und ein Dankeschön an Sonic Juice für seine Ambitionen, hier einen Thread über das weitgefasste „Industrial“-Genre zu eröffnen. Ob dieser Thread sich nun eines grösseren Zulaufs erfreuen wird, wage ich allen Ernstes zu bezweifeln, denn wenn ich mir hier in diesem Forum einige Diskussionen anschaue, so dürfte ein Thread mit der Thematik weitab aller (RS)-(Rock)-Klischees auf nicht viel Interesse stossen. Kurz, das Gros der hier Diskutierenden stellt im Grunde das dar, was mir desöfteren (z.T. fälschlicherweise) vorgeworfen wird: Musikalische Voreingenommenheit…
Aber dies nur am Rande, zur Thematik:

Natürlich steht dieser Thread im Schatten eines Konzertereignisses, welches ich allerdings als nicht relevante Nostalgie-Reunion-Revue einstufe. Erläuternd ist dazu zu sagen, daß Throbbing Gristle (im folgenden als „TG“ bezeichnet) mit einer strikten Band-„Politik“ 1981 einen finalen Schlußstrich unter ihr Schaffen setzten mit dem Slogan: „The mission is terminated“. D.h., die kulturelle und kreative Phase der einzelnen Bandmitglieder als Kollektiv „TG“ wurde als beendet erklärt, nachdem die künstlerischen/politischen/soziokulturellen Ziele TG’s nach Meinung der involvierten Personen erreicht waren! Nähere weiterführende Hintergründe sind bei Bedarf dem empfehlenswerten Buch „Wreckers of civilisation“ nachzuschlagen. Dieses Buch ist die ernstzunehmendste Arbeit, die die Bandgeschichte TG’s aufarbeitet – und zugleich einen tieferen Einblick in die (frühe) Industrialculture bietet. Weitere Fragen bemühe ich mich natürlich auch zu beantworten…

Wenn man die frühe Industrialculture begreifen möchte, kommt man natürlich an TG nicht vorbei. Ist die Band doch Begriffstifter, Begründer und Pionier einer ganzen musikalischen Bewegung. Mit der Intention, der popkulturellen Ödnis ihrer Zeit einen Gegenpol zu bereiten, gründeten sich TG 1975. Mit der rohen Intention des Punk verbanden TG allerdings nur die Ära und die sich zuspitzenden Ereignisse dieser. Operierten TG doch weitaus intellektueller und geplanter. Bedienten sich die Punks noch des Rock’n’Rolls – und verzerrten ihn – so zerlegten ihn die frühen Industrialbands komplett. Unter Zuhilfenahme defektem Equipments, elektronischen Störgeräuschen, und übersteuerter Instrumente schufen sie einen unerhört neuartigen befremdenden Sound, dessen Noisepotenzial alles bisher dagewesene in den Schatten stellte. Hörgewohnheiten wurden radikal aufgebrochen. Hinzu kam eine textliche, bzw. Bandphilosophische Thematik, die zum einen die entfremdete Gesellschaft auf der Schwelle hin zur reinen (angeblich aufgeklärten) Mediengesellschaft und Dienstleistungsgesellschaft aufzeigt, zum anderen allerdings auch deren dunkelste Obsessionen, Niederungen und Abgründe schonungslos ohne Tabus thematisierte.

Bekannteste und empfehlenswerteste Vertreter des Industrial (bis zum heutigen Tage gültig…): TG, SPK, Einstürzende Neubauten, Cabaret Voltaire, NON, Test Department, Nurse With Wound, Coil, die frühen Current 93, Laibach, Z’ev, Blackhouse, Whitehouse, Esplendor Geometrico.

Äusserst kreativ, destruktiv, natürlich gewollt provokativ (und nicht selten extrem kontrovers: das Logo von TG’s „Industrial Records“ zeigte z.B. den Schornstein des Krematoriums von Ausschwitz – das Coverartwork SPK’s bestand z.T. aus Abbildungen postmortaler Genitalien…) prägte Industrial mit die musikalische/kulturelle Landschaft der späten Siebziger/frühen Achtziger. Der Einfluß des Industrial auf nachfolgende Musiksparten ist enorm und nicht von der Hand zu weisen. E.B.M., elektronische Tanzmusik, Elektropop, Techno, ja sogar „moderner“ Heavy Metal hätten heute ein etwas anderes Gesicht ohne Industrial. Als direkt beeinflusst von dem Genre outeten sich z.B. Human League, Depeche Mode, O.M.D. (diese versuchten aus dem Besten von Joy Division, TG, ABBA und Kraftwerk eine moderne/modernistische Popmusik zu erschaffen…), Front 242, Joy Division, Moby (jawohl…), Aphex Twin, Ministry, Fad Gadget, und noch viele namhafte Künstler mehr.

Der rasche und extreme Fortschritt in Punkto Lärmzentriertheit (nicht selten so radikal fortgeführt, daß als weitere Stufe nur mehr das „weisse Rauschen“ übriggeblieben wäre…) der Protagonisten führte natürlich dazu, daß sich das kreative Schaffenspotenzial schnell aufbrauchte. Was gibt’s nämlich einer in gleissend weisses Licht getauchten ohrenzerfetzenden Atmosphäre an Radikalität noch hinzuzufügen, in der ohnedies schon sämtliche perversen Blasphemien hinausposaunt werden…? Kurz, es dauerte nicht lange, und das Szenario fing an extrem lächerlich zu werden, ein Zerrbild seiner selbst. Selbst lediglich zu einer Art grotesken Popzirkus verkommen. So ist das Erscheinungsbild der heutigen „reinen“ Industrialszene ein äusserst zweifelhaftes. Soundmässig orientiert man sich an alten Vorbildern, thematisch versucht man sich an Tabus, die keine mehr sind. Lediglich der technische Fortschritt des Equipments garantiert noch für Dezibelrekorde. Am authentischsten und glaubwürdigsten outet sich Industrial heute lediglich noch, wenn „er“ in Form reiner harter Tanzmusik daherkommt…

Und, @ S.J., wie heisst’s so schön: „Geduld ist die Tugend der Könige“ – d.h., die angeblich sagenumwobenen „Kompis“ sind im Moment tatsächlich in Arbeit…

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I mean, being a robot's great - but we don't have emotions and sometimes that makes me very sad