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Otis hat mich freundlicherweise auf diesen Artikel in der SZ hingewiesen, den ich übersehen habe. Bevor er im Nirvana der www-Archive verschwindet, kopier ich ihn hier mal rein. Ist vielleicht doch für den einen oder anderen von Interesse.
Der König lebt!
Das soll Morrissey sein, die alte Strickjacke? Nein, hier haben wir es mit Kong zu tun, einem behaarten Monstrum der reinen Hybris.
Von Karl Bruckmaier
„Und immer wenn wir traurig waren – und traurig waren wir ziemlich oft – gingen wir zu dir nach Hause und da hörten wir die Smiths. Manchmal auch The Cure oder New Order, aber größtenteils die Smiths.“ – Mehr als in diesen Zeilen des Ärzte-Gitarristen Farin Urlaub steckt, gibt es über die aus Manchester stammenden Smiths und ihren Sänger Morrissey im Grunde auch nicht zu sagen: Mitte der achtziger Jahre versorgten sie den empfindsameren Teil der Post-Punk-Generation mit theatralischen Hymnen, zerstritten sich, trennten sich, verklagten sich, nahmen mäßig interessante Soloalben auf und kompostierten zu einer britischen Institution, die außerhalb der Insel ähnliche Begeisterung wie Marmite und Porridge auslöst – keine.
2004 gelang Morrissey ein Comeback, dessen durchaus respektabler Erfolg eher dem jahrelangen Exil in Kalifornien als der Musik auf „You Are the Quarry“ geschuldet war.
Nun steht nach einer Live-CD ein weiteres Morrissey-Album zur Veröffentlichung an, produziert von Glam-Rock-Ikone Tony Visconti, aufgenommen in jenen römischen Studios, in denen auch Ennio Morricone seine surrealen Filmmusiken auftürmt: Wer da nicht unterstellt, dass mit „Ringleader of the Tormentors“ (Sanctuary) ein Potemkinsches Pop-Dorf errichtet werden soll, der muss ein guter Mensch sein. Fast ein Depp, wie man in Niederbayern sagt.
Faszinosum des Unnatürlichen
Die ersten Sekunden scheinen dem Morrissey-Skeptiker Recht zu geben: Das knittert gleich los wie ein veralteter Ethno-Disco-Anzug von der Sound-Stange; aus dem Knopfloch balzt es bräsig vom Sinn des Lebens – so klingen Songs, die Madonna vor zehn Jahren weggeworfen hat.
Aber Sänger und Song hören nicht auf, sich aufzuplustern, aufzublasen, aufzupumpen – „I Will See You in Far Off Places“ entwickelt das Faszinosum erst des Widernatürlichen, dann des Unnatürlichen; das hässliche Liedlein will mehr, immer mehr, überragt schon nach zweimal sechzig Sekunden die gesamte Pop-Produktion des vergangenen Jahres und platzt bei fast drei Minuten, wenn Morrissey in all dieses Wortgedöns folgenden schlanken Satz wie eine Nadel sticht: „And if the USA doesn’t bomb you…“- und wenn die Amis dir keine Bombe auf den Kopf werfen – wie bitte?
Das ist erst die erste von einem Dutzend fein getimter, genau kalkulierter Text-Pointen, die Morrissey noch setzen wird, extrem prononciert, die Stimme der Musik immer ein Stück voraus wie ein Wolkenschatten, der über die immer gewaltigeren Klanglandschaften stürmt, die Visconti mit Hilfe von Morricone aus Pauken und Streichern und Gitarrenriffs hier erstehen lässt, so komplex, dass wir dieses zwölfteilige Monumentalwerk ganz brav Song für Song abschreiten müssen, um seine ganze Pracht auch nur halbwegs erschließen zu können.
Die Klagemauer of Sound
Schon in „Dear God, Please Help Me“ haben wir den imaginierten Nahen Osten hinter uns gelassen und streifen mit Morrissey durch Rom – geht’s noch, möchte man am liebsten murmeln, wenn wir uns wieder im dichten Klischeehagel an die Klagemauer of Sound pressen müssen: aber klar geht’s noch, und zwar immer wilder und weiter und größenwahnsinniger: Einer wie Morrissey, der auf seiner letzten Platte gnädigerweise selbst Jesus vergeben hat, fleht nur rhetorisch zu einem höheren Wesen.
Seine Hoden haben schließlich die Größe von Pulverfässern und, Herr vergib, die können jetzt jeden Moment hochgehen – hier ist der erste, aber keinesfalls letzte Moment gekommen, wo man am liebsten hysterisch loskreischen möchte! Das soll Morrissey sein, die alte Strickjacke? Nein, hier haben wir es mit Kong zu tun, einem behaarten Monstrum der reinen Hybris.
Wo Kongs Gemächt die Erde berührt, wackeln die Mauern
Und wo Kongs haariges Gemächt die Erde berührt, da wackeln die Mauern der Städte, da erbeben die Schlösser der Tyrannen und in den Barockkirchen fallen die Putten von der Decke. Wie lange haben wir diesen Größenwahn, diese kompromisslose Durchgeknalltheit vermisst? Wie lange schon haben wir uns mit viel zu wenig zufrieden gegeben, haben einem Flohzirkus applaudiert und manchmal einem Tanzbären, weil wir ganz vergessen haben, wie großmächtig der wahre Pop sein kann?
Ja, Morrissey, du bist mein Herr und Meister, wer sollte je mit solchen Eiern mithalten können?
Der Single „You Have Killed Me“ fehlt der bisher skizzierte Wahn; sie klingt wie eine Pflichtübung, ein Produkt der Vernunft; sie darf auch bloß für nicht einmal drei Minuten stören, dann ballert uns eine O-Ton-Collage um die Ohren als sei“s ein Stück von Dziga Vertov: Mitten in einem fetttriefenden Melo sind wir da gelandet, in dem ein Kinderchor Morrissey beipflichten muss, dass es so etwas wie Normalität nicht geben kann.
Deshalb darf Tony Visconti für „In the Future When All’s Well“ seinen Glamrockteppich ausklopfen, und was nicht schnell genug zu Boden fällt, wird sich als dekadenter Glimmer dem diesmal als Pan dahertänzelnden Sänger auf die Schulter legen, der gleich zu seinem Lieblingssujet zurückkehrt, dem geschundenen Kind, das die gerechte Sache selbst in die Hand nimmt: „The Father Who Must Be Killed“. Es gibt kein Verzeihen.
Mit „Life is a Pigsty“ ist es Zeit für ein erstes, ganz in Perkussionsgespinste gehülltes, schwer verregnetes Fazit: „It’s the same old S.O.S.“ Was nur kokett gemeint sein kann. Zwar wird zwischen Donner und Triangel nichts ausgelassen und Todessehnsucht wallt allenthalben, aber eben die Todessehnsucht eines Unsterblichen, also eher Ennui als tatsächliche Empfindung – im Umkehrschluss: Pfeifen in der Kirche der Pubertät.
Habemus Kong
„I’ll Never Be Anybody“s Hero Now“ ist das Bowie-mäßigste Stück des Albums; Visconti und Morrissey haben sich sehr bemüht, nicht zu oft in diese Falle zu tappen, und der Song hätte auch eine gute Single abgegeben.
Apropos Zitate: Schön an „Ringleader of the Tormentors“ ist auch, dass man immer wieder für Sekunden, für die Dauer eines Gitarrenriffs oder Sound-Klischees daran erinnert wird, wie konfektioniert die Musikproduktion in den vergangenen Jahrzehnten geworden ist; es bedarf schon eines gar nicht genug zu lobenden Tony Visconti, um die Trümmer von fünfzig Jahren Pop so zusammenzusetzen, als höre man sie zum allerersten Mal.
Und diese absolut innovative Klangumgebung ermöglicht es wiederum einem Morrissey erst, sich zu Sätzen aufzuschwingen, wie sie sich seinem Mund noch nie entrungen haben: „Living longer than I intended, something must have gone – right“. Hier hat einer das Leben entdeckt, spät, aber hey…
Das Album schließt mit dem völlig korrekt betitelten Bombaststück „At Last I am Born“, jawohl, habemus Kong Morrissey. Alles andere als Platz eins in den Hitparaden wäre eine Beleidigung.
(SZ vom 23.März 2006)
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