Re: Dylan Tour 2005

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http://www.nzz.ch/2005/11/15/ku/articleDBD35.html

15. November 2005, Neue Zürcher Zeitung

Bekenntnisse und Visionen
Bob Dylan im Zürcher Hallenstadion
Wetzlar oder Oslo, das ist hier die Frage, und zum Glück heisst die Antwort Wetzlar. Schon mit den ersten donnernden Akkorden von «Drifter’s Escape» ist den Fans im nahezu ausverkauften Zürcher Hallenstadion klar, dass der Meister ihnen nicht wie in Oslo (oder Hamburg oder Prag) ein ausgeleiertes Programm vorsetzen wird, das mit «Maggie’s Farm» beginnt und mit «I’ll Be Your Baby Tonight» oder «Lay Lady Lay» weitergeht – sondern eine Sternstunden-Setlist, wie er sie auf dieser Tournee bisher nur dem Publikum in Wetzlar und Erfurt gegönnt hat. Schliesslich haben die Afficionados, listenreich wie Odysseus, alle Informationen über die 19 Konzerte, die ihr Heros auf dem Weg hierhin gegeben hat, vor sich auf den Knien.

Aus tiefster Bedrängnis
Täglich haben sie Bill Pagels Website «Bob Links» konsultiert und die nach Daten, Songs und Städten geordneten Listen ausgedruckt. Wie alte Zocker beim Pferderennen sitzen sie nun da, im renovierten Sport- und Musentempel, in dem es keine Stehplätze mehr gibt, kein Gedränge, keinen Kampf und kein Fieber, sondern nur noch bequeme, nummerierte Sitze. Und alles läuft so wie in ihren kühnsten Träumen: Auf das sperrige, fast bis zur Unkenntlichkeit verfremdete Eingangsstück folgen mit «Señor» und «God Knows» sogleich zwei zentrale Werke; keine Tralala-Liedchen, sondern Bekenntnisse aus tiefster Bedrängnis. Dylan trägt sie eindringlich vor, mit schmirgelnder Stimme und schneidender Phrasierung. Gekrümmt steht er über seinem Keyboard, das wie ein Bügelbrett aussieht und, wenn man es im Gewitter der E-Gitarren überhaupt hört, billig scheppert: eher ein Spielzeug als ein richtiges Instrument.

Auch mit 64 Jahren wirkt der Mann, dem die Popkultur ungezählte Impulse verdankt, agil und chaplinesk in seinem schwarzen Anzug und dem steifen Hut. Die Inszenierung seines knapp zweistündigen Auftritts ist voller Ironie: Vier der fünf Mitglieder seiner druckvoll aufspielenden Rabauken-Band tragen einheitliche sandfarbene Anzüge. Nur für George Recile, den fulminanten Drummer, scheint eine gewisse Tenueerleichterung zu gelten. Allerdings ist die Bühne so beleuchtet, dass die Musiker meist nur schemenhaft zu erkennen sind. Einmal mehr verzichtet Dylan auf technische Mittel wie Screens, die im ganzen Stadionoval Nähe suggerieren. Nah ist hier nur die Stimme.

Sie freilich irritiert: Erratischer, zerklüfteter, verwegener denn je ist der Gesang des schmächtigen Barden. Nur selten folgt er der bekannten, ursprünglichen Melodielinie. Den fortgeschrittenen Zuhörern ist diese eigenwillige Umgestaltung vertraut, und sie stören sich auch nicht an Manierismen wie dem Hochziehen der Note um eine ganze Oktave am Ende eines Verses – zumal Dylan das fragwürdige Stilmittel diesmal nicht mechanisch einsetzt. Konzertbesucher, die einen Nostalgie-Abend erwartet haben, reagieren dagegen irritiert und atmen erst bei den Zugaben auf: «Like A Rolling Stone» und «All Along The Watchtower» erkennen sie wieder.

Apokalyptischer Bilderbogen
Davor aber wird es ein Abend der Visionen und Bekenntnisse. Der zwischen ruppigem Altersheim-Punk und getragenem Country-Rock changierende Sound trägt Texte von biblischer Kraft in die Halle. «God knows there’s gonna be no more water but fire next time», singt Dylan, aber auch: «God knows you can rise above the darkest hour of any circumstance.» Zwar geht es – nach einem über viel Lap-Steel-Honig gelegten, dafür umso rauer gekrächzten «The Times They Are A-Changin’» – mit dem Blues «Watching The River Flow» auch in ruhigere Gewässer, doch dann ballt sich die Musik wieder nachgerade unheimlich zusammen: «High Water», den apokalyptischen Bilderbogen über die Flut von 1928, trägt Dylan, vielleicht unter dem Eindruck der Unwetterkatastrophe von New Orleans, mit erschütternder Intensität vor – und bricht gleichzeitig das Pathos mit einem clownesken Keyboard-Solo. Unmittelbar danach singt er «Every Grain of Sand», die anrührendste und tiefste Komposition seiner christlichen Phase.

Damit nicht genug: Mit «My Back Pages» und «Visions of Johanna» interpretiert «His Bobness» zwei weitere seiner grossen enigmatischen Songs, die er Mitte der sechziger Jahre in einem beispiellosen kreativen Ausbruch schuf, und ganz aus dem Moment heraus beschliesst er, als Tourneepremieren zwei Stücke aus «Time Out Of Mind» zu spielen: Man kann beobachten, wie er seinen Musikern kurz sagt, dass er nun «Standing In The Doorway» und «’Til I Fell In Love With You» singen will. Über diesen düsteren Reflexionen kommt indes die Spielfreude nicht zu kurz: Dylan gibt «Highway 61 Revisited» frisch, kernig, wuchtig, «New Morning» geradezu ausgelassen, «Summer Days» mit federnder Eleganz. Doch nicht nur die originelle Setlist macht dieses Zürcher Konzert zum Erlebnis: Der «Song & Dance Man» ist konzentriert, wach, präsent, spielt viel und gut Mundharmonika – und wirkt ganz hingegeben an seine Songs. In seinen besten Momenten spielt er, als hörte niemand zu.

Manfred Papst

Hallenstadion Zürich, 13. November.

„Prag – ein ausgeleiertes Programm vorsetzen“
Das ausgeleierte Programm möchte ich nicht missen. Witzig wie unterschiedlich die Wahrnehmung sein kann. Ein Bob Dylan Konzert dauert lange, sehr lange.

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Man braucht nur ein klein bisschen Glück, dann beginnt alles wieder von vorn.