Re: Miles Davis

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go1
Gang of One

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Mir ist da noch was eingefallen:

redbeansandricekrieg davis im moment nicht so gut in den griff, dieser toughe typ und dann diese verletzliche musik – find ich im moment einfach nicht so 100% überzeugend, also, ohne gefühle macht die musik keinen sinn, aber ich nehm ihm die gefühle nicht ab…

Deiner Meinung nach ist es also nicht glaubwürdig, wenn ein „tougher Typ“ wie Miles recht häufig (keineswegs immer) „verletzlich“ wirkende Musik macht. Wenn mich nicht alles täuscht, liegt dieser Aussage („Ich nehme ihm die Gefühle nicht ab“) ein Gedanke zugrunde, den ich schon seit langem für falsch halte: der Mythos der „Authentizität“.

„Unverfälschte“, „authentische“ Gefühle kriegt man vielleicht von einem Betrunkenen in der Kneipe, aber nicht von einem Künstler – der gestaltet nämlich die Gefühle und das macht seine Kunst aus. Man macht Musik nicht aus Gefühlen, sondern aus Tönen, aus Rhythmik, Melodik und Harmonik, und gestaltet diese Parameter so, dass die Töne einen Ausdruckswert erhalten und uns an Gefühle denken lassen oder sie in uns hervorrufen. Einen direkten Zugang zur „Seele“ des Künstlers gibt es aber nie, auch nicht im Jazz – das ist nur eine romantische Illusion.

Warum eigentlich sollte ein „tougher Typ“ nicht „Verletztlichkeit“ oder „Traurigkeit“ gestalten? Solche Gefühle und Stimmungen sind jedem bekannt – sich als tough zu geben heißt ja nicht, dass man Schwäche oder Niedergeschlagenheit nicht kennt, sondern dass man sie nicht zeigt, nicht im zwischenmenschlichen Umgang. Genauso könnte man spekulieren, dass Miles gerne „Verletzlichkeit“ in seiner Kunst gestaltet hat, weil sie in seinem übrigen Leben keinen Platz haben sollte. Aber das ist gar nicht wichtig: Entscheidend ist die Qualität der künstlerischen Gestaltung – die Schönheit und Ausdruckskraft der Musik.

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To Hell with Poverty